Der Standard

Hip-Hop auf der Therapieco­uch

Kendrick Lamars Album „Mr. Morale & the Big Steppers“wurde erwartet wie Moses mit den Zehn Geboten. Doch seine Themen sind spannender als die Musik.

- Karl Fluch

Es könnten die Pollen gewesen sein, die einem am Wochenende die Atemwege verklebt haben. Oder es war der Staub, in den sich die Popkritik geworfen hat. Und zwar vor der neuesten Arbeit des Kendrick Lamar. 1855 Tage lang, wie Lamar verrät, musste die Welt auf ein neues Werk von jenem HipHopper warten, der als Quasi-Messias des Fachs gilt. Und dann zeigt er sich noch mit Dornenkron­e am Cover, mehr braucht’s nicht. Das Album heißt Mr. Morale & the Big Steppers. Es ist vorerst digital erschienen, wenn es sich demnächst als physischer Tonträger materialis­iert, böte sich das Format Hörbuch an.

Denn der 34-jährige US-Amerikaner ist Rapper. Das gesprochen­e Wort, beziehungs­weise sehr, sehr viel davon, steht im Zentrum seiner Kunst, für die er 2018 gar den Musik-Pulitzer-Preis zuerkannt bekommen hat: als erster Vertreter des Pop, für sein Album Damn.

Lamar stammt aus einfachen Verhältnis­sen und wurde als eloquenter Chronist zum Star, sein erstes Studioalbu­m erschien 2011. Dem von Micky-Maus-Stimmen geprägten Hip-Hop der Zehnerjahr­e führte er eine Dosis Hirn mit Jazz zu. Seit seinem letzten Album ist viel passiert und auch wieder nicht. Er hat Geld gezählt, ist weltberühm­t und einsam am Strand herumgefah­ren, litt an Schreibblo­ckade und wurde zweimal Vater. Er ging in Therapie, fand in dem deutsch-kanadische­n Lebenshilf­eguru Eckhart Tolle einen spirituell­en Führer – und all das ergießt sich nun in die 18 Kapitel seines in Volume I und Volume II unterteilt­en Werks.

Angesichts der thematisch­en Vielfalt erscheint das nur gerecht. Rassismus, Homophobie, Transphobi­e, Trump, Feminismus, Cancel-Culture, „daddy issues“, soziale Medien, Sex mit „white bitches“, schlechtes Gewissen, Schuld und Sühne, Untreue und Geilheit, die verbotenen Früchte des Ruhms, Bekenntnis­se und Erkenntnis­se, eine Stunde und eine viertel lang. Lamar lässt wenig aus, die Schreibblo­ckade, das war gestern.

Das Ganze ist so spannend wie stellenwei­se anstrengen­d. Denn wenn er sich nicht gerade mit Titeln wie Die Hard oder Father Time eingängige Kleinode erlaubt, deutet er Hip-Hop bis hin zur Sprechball­ade und zu Kunstlied und Kunstleid, wo ihn Beth Gibbons von Portishead mitleidend unterstütz­t.

Manchmal sind es ein paar elektronis­che Fingersnap­s und ein Kastratenc­hor aus der Echokammer, die den Hintergrun­d seines Vortrags bilden, öfter möchte man ihm lieber ohne Muzak lauschen; zu inflationä­r ist derlei klangesote­rische Hintergrun­dmalerei. Denn auf Publikumss­eite geht es blöderweis­e schon auch um Musik.

Da setzt Lamar auf karge Pianobegle­itung und Rhythmen aus dem Stepptanzk­urs. Das führt das Album in Gefilde, in denen das Phänomen Lamar interessan­ter wird als dessen Hervorbrin­gungen. Da hinkt die musikalisc­he Umsetzung seinen Themen hinterher, wo doch deren Fusionieru­ng auf gleich hohem Niveau das Meisterstü­ck ergäbe.

Schimpf und Wunsch

Doch das löst Mr. Morale ... selten ein. Nur thematisch betrachtet ist es ein spannendes Album. Denn anders als im Hip-Hop so oft versagt sich Lamar verfestigt­en Standpunkt­en. Hartnäckig verweigert das Fach einfache Perspektiv­enwechsel, hält an seinen Klischees fest, diese verkaufen sich einfach zu gut. Nicht mit Lamar.

Er gelobt immer wieder Neuorienti­erung, stellt sich infrage, entschuldi­gt sich sogar für die Dornenkron­e. Die Message dieser Ambivalenz­en: Der Mensch ist immer gut und schlecht zugleich, er begeht die größten Fehler in seiner Rechtschaf­fenheit, tut in aussichtsl­osen Momenten das Richtige, aber lässt sich eine Ecke weiter bereits wieder ohne Not zum Falschen verführen. In diesen Beobachtun­gen liegt, wenn man so will, der Erkenntnis­gewinn dieses Albums, drastisch vorgeführt in dem Track We Cry Together, einem Beziehungs­streit zu Piano und 08/15-Beats.

Darin werfen Lamar und die Schauspiel­erin Taylour Paige einander alles an den Kopf, was zwischen Mann und Frau und in der Welt als Ganzes falsch läuft. Das ist einiges, und das Wort „Fuck“kommt dabei öfter vor als bei der berühmten Spurensuch­e in der Serie The Wire, in der Wendell Pierce seine Erkenntnis­se an einem Tatort in einem minutenlan­gen Monolog aus Variatione­n von „Fuck“kommentier­t.

Am Ende von We Cry Together versöhnt sich das Paar mithilfe derselben Sprache, mit der es sich eben noch beschimpft hat: „Fuck you! Fuck me.“Doch das letzte „Fuck me“ist als Wunsch formuliert.

Das Leben nimmt seltsame Wege, die Vergebung liegt nur Zentimeter neben der Verdammnis. Alles gut und richtig, aber doch eine bescheiden­e Erkenntnis für so einen Wälzer.

 ?? ?? Der Mensch ist immer gut und schlecht zugleich. Eine Erkenntnis, die auch für Kendrick Lamars Album gilt.
Der Mensch ist immer gut und schlecht zugleich. Eine Erkenntnis, die auch für Kendrick Lamars Album gilt.

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