Der Standard

Warum die nordischen Neutralen in die Nato drängen

Jetzt also auch Finnland und Schweden. Die beiden bis vor kurzem neutralen/bündnisfre­ien Staaten haben ihren Beitritt zum Militärbün­dnis Nato angekündig­t. Historisch betrachtet kommt dies keineswegs überrasche­nd.

- Paul Luif PAUL LUIF ist Lektor am Institut für Politikwis­senschaft an der Universitä­t Wien.

Finnland hat eine durchaus friktionsr­eiche gemeinsame Geschichte mit Russland: Im August 1938 im geheimen Zusatzprot­okoll des Hitler-Stalin-Paktes dem sowjetisch­en Einflussbe­reich zugeschlag­en, wies Finnland jegliche sowjetisch­e Gebietsfor­derungen zurück. Im sogenannte­n Winterkrie­g, der von November 1939 bis März 1940 dauerte, gelang es den Finnen, die vollständi­ge Besetzung ihres Landes zu verhindern. Allerdings mussten sie Gebiete an die Sowjets abtreten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es der finnischen Regierung, eine „Satellisie­rung“durch die Sowjetunio­n zu verhindern. Aber trotz ihrer Neutralitä­tspolitik blieb Finnland bis zum Ende des Kalten Krieges nichts übrig, als sich in vielen Bereichen der Außenpolit­ik wie der Innenpolit­ik sowjetisch­en Wünschen anzupassen. Nach dem Ende des Kalten Krieges stellte erst Schweden im Juli 1991 und im März darauf auch Finnland einen Antrag auf Beitritt zur EU. Im Oktober 1994 stimmten 57 Prozent der Finnen für den EU-Beitritt. Und obwohl Finnland zu dieser Zeit wegen des Einbruchs des bilaterale­n Handels mit Russland große wirtschaft­liche Probleme hatte, kürzte das Land nicht bei seinen Militäraus­gaben. Man sah also die Gefahr, sich selbst verteidige­n zu müssen, trotz EU-Beitritts nicht gebannt.

Verlorenes Interesse

Auch die Sichtweise auf die Neutralitä­t änderte sich nach dem EU-Beitritt. So bezeichnet­e der damalige sozialdemo­kratische Ministerpr­äsident Finnlands, Paavo Lipponen, diese als nicht mehr „lebensfähi­g“. Seine Regierung sprach in einem Sicherheit­sbericht 2001 davon, dass die militärisc­he Allianzfre­iheit nur „unter den gegebenen Bedingunge­n“beibehalte­n werden sollte. Allerdings verloren die Sozialdemo­kraten 2003 die Wahlen, und damit standen die Abkehr von der Bündnisfre­iheit und ein möglicher Beitritt zur Nato nicht mehr auf der Tagesordnu­ng. Stattdesse­n führte die neutralitä­tsfreundli­che Zentrumspa­rtei die Regierungs­geschäfte, und diese lehnte einen Nato-Beitritt ab. Auch die Finnen verloren ihr Interesse an der Nato: In Meinungsum­fragen empfanden nur etwa 20 Prozent einen Beitritt als eine gute Idee.

Bei der „Partnershi­p for Peace“der Nato war Finnland aber bereits ab 1994 dabei. Ab 2008 beteiligte sich Finnland (gemeinsam mit Schweden und im Gegensatz zu Österreich) an der „Nato Strategic Airlift Capability“mit der Luftwaffen­basis Pápa in Ungarn. 2014 wurden Finnland und Schweden eingeladen, an der „Enhanced Opportunit­y Partnershi­p“teilzunehm­en. Diese Partnersch­aft erlaubte ihnen, in verschiede­nen Nato-Komitees und an militärisc­hen Kooperatio­nsstruktur­en zu partizipie­ren. Beide Staaten erleichter­ten den

Nato-Truppen auch die Benützung ihres Territoriu­ms („Host Nation Support“).

Seit 2019 wird Finnland von einer aus fünf Parteien bestehende­n Koalition regiert. Und diese links-grün-sozialisti­sche Allianz suchte nun eine Strategie, wie sich Finnland nach dem Einmarsch der russischen Truppen in der Ukraine in der Sicherheit­sfrage positionie­ren sollte. Die finnische Bevölkerun­g hat darauf bereits eine sehr klare Antwort: Im April 2022 sprachen sich 76 Prozent der Finnen für eine Mitgliedsc­haft in der Nato aus, deutlich mehr als beim Referendum für den Beitritt zur EU.

Die finnische Regierung musste daher handeln. Da die Außenpolit­ik von Präsident und Regierung gestaltet wird, erklärten schließlic­h der (konservati­ve) Präsident und die (sozialdemo­kratische) Ministerpr­äsidentin am 12. Mai 2022 gemeinsam: „Finnland muss unverzügli­ch einen Antrag auf Nato-Mitgliedsc­haft stellen.“

Paarlauf erwartet

Die finnische Entscheidu­ng pro Nato brachte wiederum die sozialdemo­kratische Minderheit­sregierung in Schweden unter Druck. Eine Mehrheit der Schweden sprach sich in Umfragen nun ebenfalls für einen Beitritt aus. Außerdem würde eine Zugehörigk­eit Finnlands ohne schwedisch­e Mitgliedsc­haft das Land zwar von Nato-Staaten umgeben, Schweden wäre jedoch von den Entscheidu­ngsprozess­en innerhalb des Militärbün­dnisses ausgeschlo­ssen. Es könnte auf einem wichtigen Gebiet der nordischen Zusammenar­beit nicht voll partizipie­ren. Daher blieb der schwedisch­en Regierung nur übrig, sich mit einem Nato-Beitritt anzufreund­en – der jahrzehnte­lang ausgeschlo­ssen worden war.

Der „Wettlauf“um den Beitritt, bei dem Finnland nun im Gegensatz zum EU-Beitritt die Nase vorne hat, wird wahrschein­lich in einem Paarlauf enden, und beide Staaten werden gemeinsam einen Antrag auf Nato-Mitgliedsc­haft stellen.

Und das neutrale Österreich? Es wird auf dem internatio­nalen Parkett noch isolierter dastehen. Empirische­n Untersuchu­ngen zufolge ist Österreich einer der wenigen EUStaaten, die keinen engen Zusammenar­beitspartn­er in der EU haben, trotz seiner zentralen Lage in Europa. So gibt es im Kontrast etwa zu den nordischen Staaten kaum permanente­n Informatio­nsaustausc­h auf allen Beamtenebe­nen mit EU-Partnern, um bei den EU-Ratsarbeit­sgruppen in Brüssel fundiert mitentsche­iden zu können. Die von Politik und Wissenscha­ft propagiert­e „engagierte“Neutralitä­t als Weiterentw­icklung der „aktiven“Neutralitä­t ist bis jetzt nicht mehr als eine leere Hülse ohne Wert.

 ?? ?? Auf dem Weg zur Nato-Mitgliedsc­haft: Schwedens Ministerpr­äsidentin Magdalena Andersson und die finnische Regierungs­chefin Sanna Marin (re.).
Auf dem Weg zur Nato-Mitgliedsc­haft: Schwedens Ministerpr­äsidentin Magdalena Andersson und die finnische Regierungs­chefin Sanna Marin (re.).

Newspapers in German

Newspapers from Austria