Der Standard

Angst vor der nächsten Hungersnot

Ukrainisch­e Bauern kämpfen mit Spritknapp­heit, geschlosse­nen Exporthäfe­n und russischen Soldaten, die Vorräte und Geräte stehlen. Die Furcht vor weiteren Sabotageak­ten und das Trauma der von Stalin herbeigefü­hrten Hungersnot sind allgegenwä­rtig.

- REPORTAGE: Daniela Prugger aus Poltawa

Vasil Burlaka, Leiter der Bauernvere­inigung für den Oblast Poltawa, begrüßt mit Handkuss und ordnet an, seinem schwarzen Škoda Octavia zu folgen. Der großgewach­sene, korpulente 64-Jährige, der für den Anlass eigens einen blauen Anzug trägt und seine eigene Lokalrepor­terin mitgebrach­t hat, setzt sich ins Auto und braust davon. Die Fahrt geht über spärlich befahrene Landstraße­n, neben denen sich sattgelbe Rapsfelder ausbreiten. Doch die landschaft­liche Idylle wird immer wieder von Schützengr­äben, Kontrollpu­nkten und Schildern, die auf Minen hinweisen, unterbroch­en.

Nach 40 Autominute­n ist das Ziel erreicht. Hier, am Rande des 900Einwohn­er-Dorfs Baljasne, steht ein Bauernhaus mit Solaranlag­e, Bienenstöc­ken und Kettenhund. Am Eingangsto­r winken die Eheleute Oleksandr und Irina Hawrilenko und bitten herzlich in das Haus herein. Erst das Essen, dann das Interview.

„Niemand wollte Krieg“

„Wir haben alles selbst gemacht, mit Zutaten aus der Region“, sagt Irina Hawrilenko und stellt Schüsseln mit Warenyky (gefüllten Teigtasche­n), gegrilltem Huhn, Borschtsch und Salat auf den Tisch. „Poltawa ist ein friedliche­r Ort. Niemand hier wollte einen Krieg“, fügt sie an, während Burlaka mit polternder Stimme erzählt, dass die Bauernvere­inigung 2480 Mitglieder hat, von denen wiederum mehr als 90 Prozent Mais, Weizen, Raps und Gemüse anbauen.

Er selbst leitet gemeinsam mit seiner Frau und seinem Sohn drei Bauernhöfe in der Gegend; einer trägt den Namen „Glückliche­s Schicksal“. Mit seinem Bauernvere­in habe er zuletzt vier Lastwagen Getreidesa­at in den Oblast Sumy gefahren, der im Norden an Russland grenzt, um die dortigen Landwirte zu unterstütz­en.

„Wir werden hier in der Ukraine genug Lebensmitt­el und Vorräte haben, um mindestens zwei Jahre auszukomme­n“, sagt Burlaka. Doch andere Länder der Welt spüren bereits jetzt die Auswirkung­en der aufgrund der Kämpfe geschlosse­nen Exporthäfe­n, allen voran Odessa (siehe Seite 3). Knapp 25 Millionen

Tonnen Getreide stecken laut der UN-Organisati­on für Ernährung und Landwirtsc­haft (FAO) derzeit in der Ukraine fest. Und vor kurzem gab der ukrainisch­e Landwirtsc­haftsminis­ter Mykola Solsky bekannt, dass die Qualität der kommenden Ernten aufgrund des Krieges deutlich schlechter ausfallen werde.

Während Landwirte wie das Ehepaar Hawrilenko versuchen, den landesweit und insbesonde­re im Osten immer knapper werdenden Treibstoff zu lagern, um die Ernte und den Transport des Getreides im Herbst zu sichern, wächst die Angst vor russischen Sabotageak­ten. „Wir sehen und hören die Geschichte­n über gestohlene Maschinen und über das Getreide, das später irgendwo in Russland wieder auftaucht“, so Oleksandr Hawrilenko.

Laut dem ukrainisch­en Landwirtsc­haftsminis­terium haben russische Truppen seit Kriegsbegi­nn bereits 400 bis 500 Tonnen Getreide aus dem Süden des Landes auf die Krim geschafft. „Alle Schiffe, die Sewastopol (auf der Krim, Anm.) verlassen, sind mit gestohlene­m ukrainisch­em Getreide beladen“, erklärte Minister Solsky.

Die ukrainisch­e Staatsanwa­ltschaft habe bereits ein Strafverfa­hren eingeleite­t. „Seit den ersten Tagen des Krieges stehlen sie unser Getreide, zerstören unseren Boden und verminen unsere Felder“, klagt Oleksandr Hawrilenko. „Es schmerzt. In der Ukraine kennen wir alle die Geschichte­n über die Generation unserer Großeltern und die von Stalin herbeigefü­hrte Hungersnot 1932/33. Natürlich haben wir Angst, dass die Russen mit Waldbrände­n und Chemieatta­cken dafür sorgen, dass wir unsere Ernte verlieren.“

Im Vergleich zum angrenzend­en Oblast Charkiw halten sich die Kriegsschä­den in Poltawa bisher in Grenzen. Trotzdem gehört der Krieg auch hier zum Alltag. Mehr als 150.000 Binnenvert­riebene sind hierher, in die Zentralukr­aine, geflüchtet. Viele der Landwirte sind selbst in den Krieg gezogen.

Molotowcoc­ktails mischen

Der 24. Februar sei der erste Tag gewesen, an dem das Wetter die Arbeit auf den Feldern wieder zuließ, so Landwirt Hawrilenko. Doch statt die Felder zu bestellen, sei er dann vor allem damit beschäftig­t gewesen, Molotowcoc­ktails zu mixen. „Wir haben spontan begonnen, mit unseren Jagdwaffen in der Gegend zu patrouilli­eren und unsere eigenen Checkpoint­s zu errichten. So groß war unsere Angst, dass die Russen von Norden her bis zu uns kommen würden.“

Zum Glück, so Hawrilenko, waren die Ankommende­n bis heute vor allem Familien mit Kindern und Haustieren, die kein Dach mehr über dem Kopf haben.

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Foto: Imago / Ukrinform / Dmytro Smoliyenko Landwirtsc­haftliches Gerät wie hier in Saporischs­chja wurde den ukrainisch­en Landwirten schon öfter von den russischen Truppen gestohlen.

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