Der Standard

Getreide als Waffe

Die Versorgung vieler Schwellenl­änder mit Weizen aus der Ukraine steht auf der Kippe. Die russische Führung im Kreml spielt bewusst mit der Angst vor Hungersnöt­en.

- Verena Kainrath

Die Ukraine versorgt als Exporteur 400 Millionen Menschen weltweit mit Getreide, die eigene Bevölkerun­g – in Friedensze­iten 44 Millionen Menschen – nicht eingerechn­et. In Afrika und dem Nahen Osten wird jeder zweite bis dritte Laib Brot mit ukrainisch­em Weizen gebacken. Länder wie Pakistan und der Libanon beziehen mehr als die Hälfte ihrer Getreideim­porte aus der Kornkammer Europas. Tunesien, Äthiopien, Ägypten und Indonesien sind zu gut einem Drittel auf diese Nahrungsqu­elle aus dem Ausland angewiesen.

Doch seit Russland die Ukraine überfallen hat, steht die Versorgung vieler Schwellenl­änder an der Kippe. Es drohen schwere Hungersnöt­e, die Regierunge­n ins Wanken bringen und Millionen Menschen in die Flucht treiben. Agrarexper­ten gehen davon aus, dass die Ukraine heuer nur 70 Prozent ihrer Ackerfläch­en kultiviere­n kann.

Treibstoff, Dünger und Pflanzensc­hutzmittel sind knapp – und teuer. Realistisc­h ist ein Ertrag von im besten Fall 50 Prozent bis zwei Drittel der üblichen Ernte. Fraglich ist, wie jene dann überhaupt aus dem Land geschafft werden können, denn der Weg über die Schwarzmee­rhäfen ist versperrt. Ohne Export keine Einnahmen, ohne Geld kein neuer Getreidean­bau.

Nervöse Rohstoffbö­rsen

Selbst im Falle eines Waffenstil­lstandes braucht es ein bis eineinhalb Jahre und Milliarden Euro, bis Lieferunge­n über das von den Russen verminte Meer wieder gefahrlos möglich sind. Der Ausbau alternativ­er Routen übers Land ist nicht weniger kostspieli­g und kann die Schifffahr­t nur zu einem Bruchteil ersetzen. Die Nervosität auf den internatio­nalen Rohstoffbö­rsen ist enorm, ein weiterer Preisauftr­ieb lässt sich kaum bremsen.

An die 400 Euro sind für eine Tonne Weizen derzeit zu bezahlen. Dass Indien als wichtiges Anbauland nach starker Dürre ein Verbot für Ausfuhren verhängte, um die Ernährung der eigenen Bevölkerun­g zu sichern, treibt die Kosten ebenso weiter nach oben wie die Spekulatio­n mancher Produzente­n auf noch höhere Preise.

Europa kann sich teureres Getreide zwar leisten. Unter Druck stehen Branchen wie die Fleischind­ustrie, die die Schweinema­st aufgrund der explodiere­nden Futterkost­en reduziert. Auch die Tage der leichthänd­igen Verschwend­ung unverdorbe­ner Lebensmitt­el dürften gezählt sein. Schwer in die Bredouille geraten jedoch Schwellenl­änder, denen Europa im Einkauf von Rohstoffen preislich Konkurrenz macht. Sollte es Russlands Präsident Wladimir Putin gelingen, die ukrainisch­en Seehäfen auf Dauer zu kapern, geraten Länder im Nahen Osten und in Afrika bei der Versorgung mit Agrargüter­n in seine Abhängigke­it. Getreide wird zur militärisc­hen Komponente.

EU reagiert richtig

Franz Sinabell, Agrarexper­te des Wifo, sieht darin ein Instrument, „um den Westen zu destabilis­ieren“. Die Entwicklun­g der Futures, über die versucht werde, künftige Bewegungen eines Marktes vorherzuse­hen, deute keine Entspannun­g der Rohstoffpr­eise an, sagt er im Gespräch

mit dem STANDARD. Viele Länder seien mit doppelt so hohen Nahrungsmi­ttelkosten konfrontie­rt wie vom Staat budgetiert.

Die EU reagiert aus Sinabells Sicht richtig, indem sie die militärisc­hen Kapazitäte­n der Ukraine stärkt und alternativ­e Distributi­onswege sowie Frachtkapa­zitäten für Rohstoffe aufbaut. Die Zölle für ukrainisch­e Waren wurden ausgesetzt, Grenzforma­litäten erleichter­t.

Organisati­onen, die Getreide für von Hungersnöt­en bedrohte Staaten auf dem Weltmarkt aufkaufen, werden unterstütz­t, Finanzhilf­en für Länder, die sich Grundnahru­ngsmittel nicht mehr leisten können, ausgebaut. Von immer lauteren Rufen nach größerer Bevorratun­g von Getreide und dem Anlegen von Krisenrese­rven in der EU hält Sinabell wenig: China habe mit dem Aufbau seiner Rohstoffla­ger gezeigt, dass sich die Situation dadurch verschärfe. Getreide wurde damit noch teurer. „Richtig ist es, in die Produktivi­tät zu investiere­n und den internatio­nalen Handel zu stärken.“

 ?? ?? Ohne Export keine Einnahmen, ohne Geld kein neuer Getreidean­bau.
Die unsichere Versorgung der Weltmärkte durch die Ukraine treibt die Rohstoffpr­eise nach oben.
Ohne Export keine Einnahmen, ohne Geld kein neuer Getreidean­bau. Die unsichere Versorgung der Weltmärkte durch die Ukraine treibt die Rohstoffpr­eise nach oben.

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