Der Standard

Kämpfer ohne Hoffnung

Bohdan Zarytsky gehört zu jenen ukrainisch­en Soldaten, die noch immer im Mariupoler Asow-Stahlwerk ausharren. Seiner Ehefrau berichtete er von katastroph­alen Zuständen – nun ist der Kontakt abgebroche­n.

- Stefan Schocher

Sehr lange Tage und Nächte sind das derzeit für Natalia Zarytska im Haus ihrer Eltern bei Kiew; das Telefon immer in der Nähe. Am 7. Mai hat sich ihr Mann zum bisher letzten Mal gemeldet. Eine knappe Nachricht. Keine sonderlich aufbauende: „Das war’s“, schrieb er. Seither: Stille.

Der, auf dessen Nachricht sie da wartet, heißt Bohdan Zarytsky. Er ist einer jener ukrainisch­en Kämpfer, die bis zuletzt im Asow-Stahlwerk in Mariupol Widerstand leisten. Laut russischen Angaben wurden am Mittwoch 959 von ihnen gefangen genommen. Russische Medien lassen es so klingen, als sei damit das Werk komplett eingenomme­n – laut ukrainisch­en Quellen sind die, die jetzt aus dem Werk gebracht wurden, aber Polizisten sowie Grenzschüt­zer.

Über 1000 Soldaten sollen sich aber noch verschanze­n – überwiegen­d Kämpfer des dem Innenminis­terium unterstehe­nden Asow-Regiments. Bohdan Zarytsky ist einer von ihnen. Wo er sich derzeit befindet, weiß Natalia Zarytska nicht.

Lange Funkpausen

Stille hat es auch zuvor schon gegeben, erzählt sie im Gespräch mit dem STANDARD. Aber nicht eine solche. Zehn Tage dauerte die bisher längste Funkpause. „Wir schreiben einander jeden Tag“, sagt sie. Das sei so eine Tradition. „Und wenn es dann Internet gibt, kommen alle Nachrichte­n auf einmal durch.“

Um dorthin zu gelangen, wo es Internet gibt im Stahlwerk, muss man großes Risiko eingehen. „Ich habe ihm immer gesagt, er soll lieber auf sich aufpassen und kein Risiko eingehen“, sagt Natalia Zarytska – und macht eine Pause. Und auch Nachrichte­n wie die bisher letzte gab es. Dann sagt sie: „Ich bin stark, ich kann warten.“

Glaube an Lösung

Vor wenigen Wochen noch hatte sie den Krieg vor der Haustüre: Bombardeme­nts, Granaten, russische Panzer in der Nähe. Jetzt tost der Krieg umso lauter, je länger das Telefon still ist. „Ich weiß nicht mehr, als in den offizielle­n Meldungen zu erfahren ist“, sagt sie. Aber sie glaube an eine Lösung, auch wenn in Russland derzeit laut über die Wiedereinf­ührung der Todesstraf­e für AsowKämpfe­r nachgedach­t wird.

Mariupol war vom ersten Tag des eskalierte­n russisch-ukrainisch­en Krieges an umkämpft. Schon vor dem jetzigen russischen Einmarsch war die Stadt direkt an der seit 2014 existieren­den innerukrai­nischen Front gelegen. Wenn zwischen den Milizen der von Russland unterstütz­en Region DNR und ukrainisch­en Sicherheit­skräften geschossen wurde, so hörte man das in Mariupol. Einschläge zum Abendessen, das war wie ein Wetterphän­omen.

Im Mai 2014 versuchten prorussisc­he Kräfte, die Stadt im Handstreic­h zu nehmen – und scheiterte­n. Mariupol wurde zu einer Festung. Und zugleich war die Stadt ein wirtschaft­licher wie humanitäre­r Hub für die Region.

Nach fast drei Monaten Krieg sind nur noch Trümmer davon übrig. Knapp 450.000 Einwohner hatte Mariupol. Heute leben dort laut ukrainisch­en Angaben noch etwas mehr als 100.000 Menschen. Viele sind geflohen, viele wurden in „Filtration­slagern“interniert – die jetzt evakuierte­n Soldaten werden in solche Lager gebracht.

Wie viele Menschen im Zuge der Kämpfe getötet wurden, ist nicht bekannt. Zehntausen­de sollen es sein. Oder auch noch mehr. Eine Zahl in dieser Größenordn­ung lassen Massengräb­er im Umland erahnen, die auf Satelliten­aufnahmen zu sehen sind. Allein im Theater der Stadt, in dem sich Zivilisten versteckt hatten und das von Russlands Armee bombardier­t wurde, starben laut ukrainisch­en Angaben mindestens 300 Menschen.

Die Stadt ist gefallen – aber wie es um das Stahlwerk steht, ist nicht klar. Zumindest die Verwundete­n sind anscheinen­d raus. Als „katastroph­al“habe ihr Mann die Lage beschriebe­n, erzählt Natalia Zarytska. Er habe gesagt, er halte es kaum aus, in die Keller zu gehen: So viele Menschen mit abgerissen­en Gliedmaßen.

Dass er da lebend herauskomm­e, glaube ihr Mann nicht mehr, erzählt Natalia Zarytska. Sehr lange und ausführlic­h habe er darüber geschriebe­n, dass sein Geist ins Dorf seiner Kindheit wandern werde. Dass sie ihn dort werde treffen könne. Er habe geschriebe­n, dass er nicht mehr leben wolle unter diesen Umständen; dass es besser sei, getötet zu werden, als mit abgerissen­en Gliedmaßen und absterbend­em Fleisch am Körper in einem Bunker zu verrotten. Er habe, so erzählt sie, keine Hoffnung auf Rettung.

Der 14. Februar war es, an dem Natalia Zarytska ihren Mann zum letzten Mal gesehen hat. Da war die Welt noch einigermaß­en in Ordnung. Nach Mariupol war sie gefahren, für ein Wochenende. Spaziereng­ehen am Meer, dann aber doch auch der Geruch einer bevorstehe­nden Eskalation in der Luft. Aber Artillerie­beschuss, Keller, die Fragen des Sohnes: All das war noch nicht einmal eine erahnte Möglichkei­t.

Nicht mehr dieselben

„Sie werden keine Menschen wie alle anderen mehr sein“, sagt Natalia Zarytska. Schwer sei es, sich vorzustell­en, zwei Monate unter Blockade und unter Beschuss zu sein, Kameraden sterben zu sehen. Ob es den einen Bohdan Zarytsky noch gebe, mit dem sie Mitte Februar noch das Wochenende verbracht habe, das wisse sie nicht. Aber auch sie ist nicht mehr dieselbe: Dazwischen liegen Wochen im Keller, Artillerie­beschuss, russische Panzer in der Nähe, Berichte über systematis­che Vergewalti­gung.

Ihr Sohn frage sie immer noch jeden Tag, ob denn die Okkupanten jederzeit die Tür eintreten könnten, um sie alle zu töten. Und die einzige ehrliche Antwort, die sie darauf habe sei: „Ja.“

„Sie werden keine Menschen wie alle anderen mehr sein.“Natalia Zarytska über die Kämpfer im Asow-Stahlwerk. Ihr Mann Bohdan Zarytsky ist einer von ihnen.

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 ?? Foto: Reuters / Alexander Ermochenko ?? Mit elf Quadratkil­ometern Fläche ist das Asow-Stahlwerk eines der größen in Europa. Der Kampf wird erbittert geführt.
Foto: Reuters / Alexander Ermochenko Mit elf Quadratkil­ometern Fläche ist das Asow-Stahlwerk eines der größen in Europa. Der Kampf wird erbittert geführt.

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