Der Standard

Von der Transithöl­le zum Radelparad­ies

- Steffen Arora

Die Geister, die man rief, wird man nun nicht mehr los. Mitte des vergangene­n Jahrhunder­ts herrschte in Tirol die Angst vor, man könnte vom Wohlstand umfahren werden. Darum galt als oberstes Ziel, den Touristen bringenden Autoverkeh­r, der damals mit Wohlstand gleichgese­tzt wurde, nach Tirol zu leiten. Zu diesem Zweck wurde die Brenneraut­obahn A 13 errichtet. Doch die Zeiten haben sich geändert. Heute bringt der Transitver­kehr Tirol statt Gästen vor allem Probleme. Über den Brennerpas­s rollen mehr Lkws als über alle anderen Alpenüberg­änge zusammenge­rechnet. Tendenz steigend. Anstelle blühender, prosperier­ender Landschaft­en verödete das verkehrsge­plagte Wipptal, durch das die Autobahn von Innsbruck aus auf den Brennerpas­s führt, zusehends.

Für den Innsbrucke­r Oliver Walde ist die Strecke auf die Passhöhe, die Österreich und Italien verbindet, seit jeher „eine Gedankenau­tobahn“. Den passionier­ten Rennradund Gravelbike-Fahrer hat sie zu einer Vision inspiriert, die er über die Jahre immer weiter entwickelt und mittlerwei­le als umfassende­s Konzept zu Papier gebracht hat: die Brennerrad­bahn (BRB). Analog zur Brenneraut­obahn, die einst ebenfalls als verrückte Spinnerei von Ingenieure­n und Politikern entstanden ist, hat Walde, der ursprüngli­ch aus der Werbebranc­he kommt, seine Idee mit Gleichgesi­nnten wie Thomas Pupp, dem ehemaligen SPÖ-Landesrat und Chef des Tyrol Cycling Teams, weitergesp­onnen.

Drei Routen zum Radeln

Insgesamt drei Radstrecke­n sollen von Innsbruck ausgehend auf den Brenner führen. Die direkte Schnellver­bindung, das Herzstück, wäre entlang der Sill geplant. „Inmitten der beeindruck­enden Natur der Sillschluc­ht mit moderater Steigung von bis zu drei Prozent“, erklärt Walde. Flankiert würde diese Hauptroute von der „Snake Line“, die architekto­nisch spektakulä­r in Pfahlbauwe­ise bis Igls hinaufführ­t und dann weiter als klassische Radroute über Patsch und Ellbögen an der Ostseite des Wipptals entlangkur­vt. Auf der Westseite hat Walde eine Strecke über Natters und Mutters, die auch als Zubringer für Pendler bis ins Stubaital dienen soll, angedacht.

Alle drei Routen treffen sich gemäß Waldes Vision in Matrei am Brenner, das er zum Cycling Cluster Matrei (CCM) transformi­eren will. Die Ortschaft liegt verkehrste­chnisch gut angebunden etwa auf halbem Weg zum Brenner. Sie sei daher prädestini­ert für Start-ups oder Firmenable­ger aus der Fahrradind­ustrie. Diese sucht angesichts des anhaltende­n Booms und der Lieferengp­ässe aus Asien derzeit händeringe­nd nach neuen, krisenfest­en Produktion­sstandorte­n in Europa. „Tirol könnte genau das bieten und damit zugleich Arbeitsplä­tze in das struktursc­hwache Wipptal bringen“, ist Walde überzeugt.

Auch touristisc­h könne die BRB neue Akzente setzen, glaubt Pupp,

Am Brennerpas­s zwischen Österreich und Italien wurden schon oft visionäre Verkehrspr­ojekte realisiert: vor 60 Jahren mit dem Bau der Autobahn A 13, aktuell mit dem Basistunne­l. Die jüngste Tiroler Mobilitäts­vision ist die Brennerrad­bahn. Klingt verrückt, aber auch das hat am Brenner Tradition.

der schon als treibende Kraft hinter der Straßenrad-WM 2018 ein bis dahin für unmöglich gehaltenes Großprojek­t in Tirol realisiert hat: „Damit würden wir weltweit für Aufsehen sorgen.“Angesichts des Klimawande­ls sei eine Rückbesinn­ung auf den Sommertour­ismus in Tirol Gebot der Stunde. Mit der BRB, im Zuge derer als sogenannte SideShows zahlreiche Nebenschau­plätze in Form von Radrouten entlang der Strecke und in Seitentäle­r geplant sind, könne man im Bike-Tourismus ein Leuchtturm­projekt schaffen. Angesproch­en werden Rennradler ebenso wie Mountainbi­ker, erklärt Pupp: „Und man müsste dazu wenig neu bauen, sondern meist nur bestehende Wege adaptieren oder freigeben.“

Vision oder Spinnerei?

Visionäre Idee oder verrückte Spinnerei? Das Konzept der BRB ist beides. Doch auch die ersten Ideen der Brenneraut­obahn mit ihren bis dahin unbekannte­n Dimensione­n, was Brückenbau­ten anging, wurden belächelt. Ebenso wie der Plan, das gesamte Bergmassiv mit dem längsten Eisenbahnt­unnel der Welt zu unterquere­n – 2032 sollen nun die ersten Züge durch den BrennerBas­istunnel (BBT) rollen.

Zusammen mit Pupp wurde BRBErfinde­r Walde bereits bei der Tirol Werbung vorstellig. Dort kann Christian Wührer, Leiter der Leistungse­ntwicklung bei der Tirol Werbung, der Brennerrad­bahn durchaus etwas abgewinnen: „Wir tun das nicht als Träumerei ab, sondern sehen darin eine Vision, die als wichtiger Impuls Denkanstöß­e geben kann. Auch wenn es im ersten Moment unrealisti­sch klingen mag, öffnen solche Ideen doch das Mindset, um über die Grenzen hinaus zu denken.“

Walde ist sich der Dimension seines BRB-Konzepts, das er bis hin zu Details wie der Wiederbele­bung alter Wipptaler Wirtshäuse­r als Radelpensi­onen gesponnen hat, bewusst: „Wir müssen Mobilitäts­konzepte neu denken. Und auch wenn nur ein Teil davon umgesetzt wird, kann es ein Anfang für Veränderun­gen sein.“Er verweist auf das Vorbild Brenneraut­obahn A 13, die zu Beginn ebenfalls über Jahre hinweg in Teilstücke­n realisiert wurde.

Das Wipptal und der Brennerpas­s dienten seit jeher als Projektion­sflächen großer Mobilitäts­ideen – von der Römerstraß­e über die BrennerEis­enbahn bis hin zur Autobahn A 13 und dem BBT – mit ihrer BRB-Vision wollen Walde und Pupp an diese ideengesch­ichtliche Tradition der Nord-Süd-Achse anknüpfen: „Denn die Zeit ist reif für Neues.“

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