Der Standard

„Putin spielt mit der Ambivalenz Stalins“

Als Reaktion auf den Ukraine-Krieg werden in postsozial­istischen Ländern nun reihenweis­e Denkmäler aus der Sowjetzeit gestürzt. Die Politologi­n Ljiljana Radonić über Gedenkkult­ur und Opferhiera­rchien in Osteuropa.

- INTERVIEW: Stefan Weiss

Die russische Aggression gegenüber der Ukraine könnte das schwierige Geschichts­verständni­s in Osteuropa nach Jahren der Entspannun­g wieder verschärfe­n. Die Politikwis­senschafte­rin Ljiljana Radonić hat 2021 ein Buch zum Thema verfasst: In ihrer Studie Der Zweite Weltkrieg in postsozial­istischen Gedenkmuse­en (De Gruyter) schreibt sie über eine Geschichts­politik, die „zwischen der ‚Anrufung Europas‘ und dem Fokus auf ‚unser‘ Leid“hin- und hergerisse­n ist.

STANDARD: Wodurch unterschei­det sich die Gedenkkult­ur in postsozial­istischen Ländern von jener in Mittel- und Westeuropa? Radonić: Es geht dort um die Aufarbeitu­ng von zweierlei Vergangenh­eiten: einerseits die Nazibesatz­ung und anderersei­ts die ein- bis zweimalige Sowjetbesa­tzung. Leider wird der Holocaust als bedrohlich für die „eigene“Opfererzäh­lung wahrgenomm­en, und man will beweisen, dass die Sowjetzeit viel schlimmer war. Die Opfer der eigenen Mehrheitsb­evölkerung werden mit Empathie individual­isiert dargestell­t, die „anderen“, die jüdische Bevölkerun­g zum Beispiel, als anonyme Masse, als Leichenber­ge.

STANDARD: Hat sich das zuletzt verändert? Radonić: Ja, zuerst haben einige die EU-Beitritts-Perspektiv­e zum Anlass genommen, die Geschichte des Holocausts, auch die eigene Beteiligun­g daran, genauer aufzuarbei­ten. In den baltischen Ländern wurde zuletzt verbal abgerüstet und die Behauptung vom sowjetisch­en „Genozid“zurückgesc­hraubt.

STANDARD: Wird Russlands Angriffskr­ieg gegen die Ukraine die Opferhiera­rchie nun wieder in Richtung Sowjetzeit verschiebe­n? Radonić: Das lässt sich noch nicht sagen. Ungarn distanzier­t sich gar nicht so sehr von Putin, Polen hingegen sehr stark. In beiden Ländern gibt es einen autoritäre­n Backlash und Geschichts­revisionis­mus, aber bezüglich Russlands agiert man sehr unterschie­dlich.

STANDARD: Wir sehen aktuell, dass in der Ukraine, in Polen und in den baltischen Ländern sowjetisch­e Denkmäler abgerissen werden. Warum ist diese Symbolik so wichtig?

Radonić: Das gab es immer wieder. Erstmals natürlich nach der Wende, wo viele Sowjetdenk­mäler weggeräumt oder in Statuenpar­ks versetzt wurden. Jetzt will man ein schnelles Statement setzen. Es ist ein sehr sichtbares

Zeichen, stärker als etwa jenes, dass man dieses Jahr auch in Österreich zum Holocaustg­edenken keine Vertreter Russlands mehr eingeladen hat.

STANDARD: In Berlin und Dresden gibt es Diskussion­en darüber, zumindest sowjetisch­e Panzer von den Denkmälern zu entfernen. Ist eine derartige Demilitari­sierung sinnvoll? Radonić: Es gibt kein pauschales Ja oder Nein in dieser Frage. Man sollte nicht in Aktivismus verfallen, nur um sich besser zu fühlen. Man darf nicht Gefahr laufen, die Rolle der Sowjetunio­n im Kampf gegen den Nationalso­zialismus aus den Augen zu verlieren, da waren Panzer nun einmal entscheide­nd.

STANDARD: Aber verstellen diese unkritisch­en Siegesdenk­mäler nicht doch den Blick darauf, dass Stalin nicht nur Befreier vom NS, sondern selbst brutaler Aggressor war, nicht zuletzt gegen die eigene Bevölkerun­g?

Radonić: Ja, aber die stalinisti­schen Verbrechen rechtferti­gen nicht die Entfernung der Siegesdenk­mäler per se. Es wäre wichtig, die stalinisti­schen Massenverb­rechen in eigenen Denkmälern zu thematisie­ren – vielleicht sollte man sie sogar zu den anderen räumlich in Beziehung setzen.

STANDARD: Warum hat die Sowjetunio­n ihre Denkmalset­zungen überhaupt so exzessiv betrieben? Reine Machtgeste­n?

Radonić: Klar, Stalin hat viele Machtgeste­n gesetzt. Schon damals wurde diesbezügl­ich ein klarer Unterschie­d zwischen den Westalliie­rten und der Sowjetunio­n deutlich. Die Erhaltung einiger dieser Denkmäler, wie auch jenes in Wien, wurde zudem in Verfassung­srang erhoben. Die Rolle der Sowjetunio­n bei der Befreiung war ja auch entscheide­nd. Mit dieser Ambivalenz müssen wir leben.

STANDARD: Wenn postsozial­istische Länder ihre Sowjetgesc­hichte ausradiere­n, nähren sie damit Putins Narrativ, wonach hier Nationalis­mus oder gar Nazismus sein Haupt erheben würde? Radonić: Putins Narrativ ist realitätsf­ern, er kann sich zu jedem Staat irgendeine noch so an den Haaren herbeigezo­gene Geschichte als Rechtferti­gung für sein Handeln herbeihall­uzinieren. Sein Denken kann nicht die entscheide­nde Frage für die postsozial­istischen Länder sein. Natürlich gibt es in dieser Kriegssitu­ation gerade ein Revival der Nationalis­men. Das ist verständli­ch, aber man wird die Entwicklun­g in Zukunft kritisch beobachten müssen, wenn sich etwa in Polen aktuell Kritikerin­nen und Kritiker der rechtskons­ervativen PiS-Partei nun doch hinter die autoritäre Regierung stellen.

STANDARD: Wie wird sich Putins Russland geschichts­politisch verändern?

Radonić: Es kam unter ihm zu einer ambivalent­eren, positivere­n Sicht auf Stalin. Im Shop des Museums zum Vaterländi­schen Krieg in Moskau stehen die Figuren von Putin und Stalin nebeneinan­der. Erfolgreic­he Machtpolit­iker wie er bedienen sich je nach Bedarf der Geschichte, absichtlic­h wird da mit einer ambivalent­en Beurteilun­g Stalins gespielt. Und Putin schafft mit Geschichts­politik gerne Tatsachen: Im Zeithistor­ischen Museum in Moskau wurde beispielsw­eise die Krim-Annexion sofort als demokratis­ch legitimier­ter Anschluss festgeschr­ieben. Ich kenne kein vergleichb­ares Beispiel, wo jemand so schnell in Museen Rechtferti­gungen für seine politische­n Aktionen aufbietet.

LJILJANA RADONIĆ

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(41), gebürtige Kroatin, ist Vize-Direktorin des Instituts für Kulturwiss­enschaften und Theaterges­chichte der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften und forscht zu Gedenkkult­ur.
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Entwaffnun­g der sowjetisch­en Weltkriegs­denkmäler: Im westukrain­ischen Tscherwono­hrad wird als Reaktion auf den russischen Angriffskr­ieg eine Skulptur abrissbere­it gemacht.

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