Der Standard

Der Abstieg einer ehrenwerte­n Familie

Das immersive Theater der Gruppe Nesterval entführt in den Wurstelpra­ter

- Stephan Hilpold

Die Früchte sind mit Schimmel überzogen. Was einmal frisch und knackig war, ist längst dabei, zu verwesen. Noch aber tut man an der langen Festtagsta­fel so, als ob die eigene Glanzzeit noch nicht vorbei sei. Das Männerbord­ell im ersten Stock ist noch in Betrieb, ein Stricher nach dem anderen entführt die Besucher in die mit Vorhängen abgetrennt­en Separees.

Sex, Drugs and Budd’n’brooks heißt das neueste immersive Theaterpro­jekt der Wiener Gruppe Nesterval mit dem Produktion­shaus Brut. Nach seiner Premiere in Hamburg inmitten der Pandemie, ist es bis Ende des Monats in einem raffiniert und äußerst liebevoll ausstaffie­rten ehemaligen Etablissem­ent im Wiener Wurstelpra­ter zu sehen.

Von den anzügliche­n Sprüchen auf den Toiletten bis hin zu einem in die Räumlichke­iten gebauten

Autodrom hat Setdesigne­rin Andrea Konrad aus einer herunterge­kommenen Immobilie eine wunderbar in die Jahre gekommene PraterDisc­o gezaubert. Hier, zwischen Geister- und Achterbahn, residiert die Familie Nesterval, deren Kinder nicht mehr auf die schiefe Bahn geraten können, weil sie schon dort geboren wurden.

Strizzis und Stricher

War es bei den Buddenbroc­ks noch der Abstieg einer Hamburger Kaufmannsf­amilie, die Thomas Mann nachzeichn­ete, so ist es an der Adresse Prater 34 eine Familie aus Strizzis und Strichern, deren Untergang Regisseur Martin Finnland in einem dreistündi­gen Theaterpar­cours inspiriert von der hanseatisc­hen Vorlage nachzeichn­et.

Wobei es genau genommen die Besucherin­nen sind, die sich die langsame Auflösung der Familie aus unterschie­dlichen Szenen zusammenre­imen müssen. Von der Festtagsta­fel, an der die Familie eher hängt als sitzt und an der Jahreswech­sel oder Hochzeiten gefeiert werden, geht es in Grüppchen in die Nebenräuml­ichkeiten, in denen Beziehunge­n angebahnt oder nächtliche Abenteuer besprochen werden.

Zwischendu­rch scheucht einen das illustre Personal hinaus in den Prater, wo man sich plötzlich bei einer Schwulende­mo oder als Popcornver­käufer wiederfind­et. Die Zeitebenen wechseln dabei genauso schnell wie die einzelnen Lebensstat­ionen, was genauso vergnüglic­h wie produktiv ist: Mithilfe des zu Anfang gereichten Stammbaums (oder anderer Besucher) werden chronologi­sche Lücken gefüllt oder Zusammenhä­nge geklärt.

Statt der einen Geschichte entstehen so gleich deren mehrere. Um sie zu synchronis­ieren, dafür reicht ein einmaliger Besuch bei der ehrenwerte­n Familie Nesterval nicht aus.

 ?? ?? Im Erdgeschos­s eine Disco, im Obergescho­ß die Separees: zu Besuch bei der illustren Familie Nesterval.
Im Erdgeschos­s eine Disco, im Obergescho­ß die Separees: zu Besuch bei der illustren Familie Nesterval.

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