Der Standard

Schluss mit der Selbsttäus­chung!

Österreich ist sicherheit­spolitisch nackt, Parteien bluffen mit der Neutralitä­tskeule

- Thomas Mayer

PDraktisch in allen 27 Mitgliedsl­ändern der Europäisch­en Union laufen intensive Debatten darüber, wie Europa sich gegen einen militärisc­hen Angriff aus Russland wehren könnte. Die Menschen spüren, dass auf diesem Kontinent seit dem brutalen Überfall Russlands auf die Ukraine in Sachen Sicherheit nichts mehr so ist und für längere Zeit sein wird, wie es war.

Frieden, Freiheit, auch Wohlstand und Demokratie scheinen plötzlich nicht mehr selbstvers­tändlich. Wladimir Putins Eroberungs­krieg bedroht, was nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 für fast eine halbe Milliarde Menschen mühsam geschaffen wurde.

Kein Wunder also, wenn Debatten über militärisc­he Hilfen für die Ukraine und auch über die eigene Wehrhaftig­keit zum Teil echt schmerzhaf­t ablaufen. Die Politik, die Parteien, die Regierunge­n sind schwer gefordert, den Bürgern Lösungen und Antworten zu liefern.

Frankreich, alte Kriegsnati­on, drängt vehement darauf, dass die EU mit der Nato kompatibel eine starke, souveräne Militäruni­on aufbaut. In Deutschlan­d war man lange hin- und hergerisse­n. Inzwischen ist die Regierung zur umfassende­n Militärhil­fe für die Ukraine bereit, will riesige Summen für die Bundeswehr bzw. deren Beitrag in einer hybriden „Euroarmee“aufwenden. ie Osteuropäe­r mit ihrer traditione­llen Skepsis Russland bzw. der Sowjetunio­n gegenüber sind sehr engagiert und für „Nato first“. Am beeindruck­endsten jedoch ist es, wie seriös und konsequent die Sicherheit­sdebatte in Schweden und Finnland geführt wird, über Jahrzehnte Leuchttürm­e von Neutralitä­t und Bündnisfre­iheit. Ergebnis: Alte Zöpfe werden abgeschnit­ten. Von den Bürgern getragen, beschlosse­n die Parlamente in Helsinki und Stockholm mit riesiger Mehrheit die Ansuchen auf einen Nato-Beitritt.

Das Auffällige überall: wie substanzie­ll die Diskussion­en zwischen Bürgerinne­n, Politikern und Parteien ablaufen. Das ist auch die Grundvorau­ssetzung bei staatspoli­tisch weitreiche­nden Entscheidu­ngen: Es braucht Konsens über die Parteigren­zen hinweg. Schaut man diesbezügl­ich nach Österreich, ist es geradezu schockiere­nd, mit welcher Oberflächl­ichkeit und Ignoranz sich Regierung und Opposition mit einer der wichtigste­n

Fragen unserer Zeit auseinande­rsetzen. Anders als in Zeiten des EU-Beitritts in den 1990er-Jahren herrscht zwischen den Parteien im Parlament tiefstes Misstrauen. Man kann sich nicht vorstellen, wie diese fünf Parteien in Sachen Sicherheit jemals einen Konsens finden könnten.

Auch in der Substanz ist wenig da. Wenn es darum geht zu erwägen, wie man seine eigene Bevölkerun­g am besten schützen könnte, was genau der Staat militärisc­h aufwenden muss, wie ein neutrales Land mit der EU und Partnern agieren könnte, herrscht Leere. Vom ÖVP-Bundeskanz­ler abwärts wird die Neutralitä­tskeule geschwunge­n: „Wir waren neutral, sind neutral und bleiben neutral!“Punkt. SPÖ („aktive Neutralitä­t“) und FPÖ stimmen da freudig mit ein. Grüne und Neos setzen auf das Luftschlos­s von der „europäisch­en Armee“ohne Nato. Dass das Bundesheer nackt ist, auf die Teilnahme an einer europäisch­en Sicherheit­sordnung, die von EU und Nato gestaltet wird, nicht vorbereite­t ist, darüber will niemand reden. Dabei ginge es gar nicht darum, jetzt zu entscheide­n, ob man den schwedisch­finnischen Weg geht oder nicht. Aber die Menschen haben ein Recht darauf, dass das offen und konkret debattiert wird.

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