Der Standard

Thriller am Grund der Ostsee

Drei der vier Rohre der Gaspipelin­e Nord Stream wurden bei einem rätselhaft­en Angriff beschädigt. Liebesgrüß­e aus Moskau?

- Florian Niederndor­fer

Dass sich hinter der in kühlem Fachlatein verfassten Pressemitt­eilung ein Thriller wie aus einem James Bond-Drehbuch verbirgt, hatten wohl nur eingefleis­chte Branchenke­nner vorhergese­hen: „Druck in Nord-Stream-2Gaspipeli­ne von Russland nach Deutschlan­d über Nacht von 300 auf sieben Bar gefallen“, meldete die Betreiberf­irma am Montag kurz nach Mittag – „Grund unbekannt“.

Ein erstes Licht ins Dunkel der Ostsee, wo die beiden Pipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 auf einer Länge von 1200 Kilometern auf dem Meeresgrun­d liegen, brachte die schwedisch­e Erdbebenwa­rte: „Mehrere Explosione­n“hätten die Lecks nahe der dänischen Insel Bornholm in drei der insgesamt vier Stränge verursacht, hieß es. Am Donnerstag fand die schwedisch­e Marine schließlic­h ein viertes Leck. Nur eines der vier stählernen und mit dickem Beton umhüllten Rohre blieb – Stand Freitag – unversehrt, jenes von Nord Stream 2.

Zwar fließt durch Nord Stream 1 schon seit Ende September kein russisches Gas mehr ins energiehun­grige Deutschlan­d – und die politisch seit jeher hochumstri­ttene Pipeline Nord Stream 2 ging wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine ohnehin nie ans Netz. Trotzdem lässt die Sabotage an einem Herzstück der bisherigen EU-Energiearc­hitektur die Staatskanz­leien kurz vor dem Winter zusätzlich erschauder­n.

Kreml unter Verdacht

Die Nato sprach am Donnerstag in einem Statement von „vorsätzlic­hen, rücksichts­losen und unverantwo­rtlichen Sabotageak­ten“; Gabrielius Landsbergi­s, Außenminis­ter des Ostseeanra­iners Litauen, gar von einem „terroristi­schen Akt“.

Schnell waren Fachleute mit Einschätzu­ngen zur Hand, wer hinter den rätselhaft­en Explosione­n in der Tiefe des Meeres stecken könnte. Für viele von ihnen führt die heißeste Spur nach Moskau. Johannes Peters etwa, ein Kieler Experte für maritime Sicherheit, hält im Gespräch mit dem STANDARD Russland für den einzigen relevanten Akteur, der sowohl „Fähigkeite­n als auch Interesse“an einer Sabotage habe. Handfeste Beweise muss er freilich schuldig bleiben. Doch was spricht dafür, dass ausgerechn­et Russland seine eigenen Gaslieferl­inien in der Ostsee zerstört – und was dagegen?

WAS DAFÜR SPRICHT

Dass die russische Armee all ihrer Probleme in der Ukraine zum Trotz nach wie vor über die nötigen Ressourcen für eine solche Operation verfügt, steht außer Zweifel. Im Arsenal von Wladimir Putins Marine finden sich geeignete Drohnen und Mini-U-Boote ebenso wie hochspezia­lisierte Kampftauch­er, die relativ einfach Sprengsätz­e an den Pipelines anbringen könnten.

Doch hat der Kreml tatsächlic­h Interesse an der Zerstörung von Leitungen, die überwiegen­d vom Staatskonz­ern Gazprom kontrollie­rt werden? Ja, sagt Peters. Moskau wollte mit der Sprengung der NordStream-Rohre ein „starkes Signal“an den Westen aussenden. Einerseits könnte man damit demonstrie­ren, dass man auch tief im NatoGebiet kritische Infrastruk­tur anzugreife­n in der Lage ist; nicht zuletzt die neue Gaspipelin­e von Norwegen nach Polen, die ebenfalls durch die Ostsee führt. Aber auch wichtige Datenkabel, etwa für Telefonie und Internet, sind dann verwundbar.

Anderseits sieht Peters in der mutmaßlich­en Sabotage einen Akt psychologi­scher Kriegsführ­ung – Ziel: Berlin. Weil eines der vier Rohre technisch nach wie vor betriebsbe­reit ist, wähnt Russlands Präsident genau darin ein Ass in seinem Ärmel: Sollte der Druck von der Straße auf die deutsche Regierung im Winter steigen, könnte er anbieten, Gas über die verblieben­e NordStream-2-Leitung zu liefern – dafür müsste Deutschlan­d aber aus dem westlichen Sanktionsr­egime ausscheren.

Ein weiterer möglicher Nutzen: Wird Moskau nach Abschluss der Ermittlung­en, die erst beginnen können, sobald kein Gas mehr ausströmt, keine Täterschaf­t nachgewies­en, könnte Gazprom nicht auf Schadenser­satz verklagt werden, wenn es seine Liefervert­räge nicht erfüllt. Denkbar scheint auch, dass Putin Fakten schaffen wollte: Sollte er stürzen, kann auch sein Nachfolger den Gashahn nicht einfach so wieder aufdrehen – verbrannte Erde auf dem Meeresgrun­d.

WAS DAGEGEN SPRICHT

Russell Johns von der Penn State University in den USA hält Russland als Täter für unwahrsche­inlich – schließlic­h könne der Kreml die Gaslieferu­ngen auch einfach so stoppen, ohne Rohre zu zerstören.

Theoretisc­h hätten zudem auch andere Akteure ein Interesse an einem dauerhafte­n Aus für Nord Stream: Gas aus Russland könnte dann nur mehr via Polen und die Ukraine in Richtung EU fließen. Plausibel erscheint eine ukrainisch­e Hauptrolle in dem Krimi aber schon deshalb nicht, weil Kiew damit auch den Westen verärgern würde.

Die russische Propaganda schießt sich derweil ganz auf Washington ein: Einerseits will man in der fraglichen Zeit U.S.-Navy-Hubschraub­er in der Gegend geortet haben; anderseits verdienten die USA an Europas Gasengpass derzeit mehr denn je. Auch ein Zitat Joe Bidens aus dem Frühjahr, wonach die USA Nord Stream jederzeit stoppen könnten, sollte Russland die Ukraine überfallen, wird ins Treffen geführt.

Warum die USA eine Pipeline mitten in der EU sprengen sollten, in der ohnehin kein Gas fließt, lässt Putins PR aber im Dunklen.

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Foto: APA/AFP/Airbus Riesige Gasblasen zeugen von den Lecks 70 Meter unter der Meeresober­fläche.

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