Der Standard

„Ein selten feiner Mensch“

Mit „40 Jahre Schach im ZEITmagazi­n“legt Helmut Pfleger eine unterhalts­ame Auswahl seiner Kolumnen vor. Ein Geschenk an uns zum Jahrestag.

- Von ruf & ehn

Er hat ja etwas von Harald Schmidt, betrachtet man das Autorenfot­o auf dem Cover seines neuen Buches, bzw. Harald Schmidt hat etwas von ihm, denn Helmut Pfleger ist länger im Geschäft als der Late-NightShowm­oderator. Vielleicht ist ja eher ein Vergleich mit Bob Dylan oder Wolfgang Niedecken (BAP) angebracht.

In den 70er-Jahren gehörte Pfleger zu den besten Schachspie­lern Deutschlan­ds, in seinem anderen Leben (das man gerne „bürgerlich“nennt) arbeitete er seit seiner Promotion 1971 als Arzt und Psychother­apeut. 1975 wurde Pfleger Großmeiste­r, seit 40 Jahren ist er Autor der Schachkolu­mne in Die Zeit. Legendär sind bis heute seine ebenso launigen wie kompetente­n Live-Partiekomm­entare im Fernsehen und bei unzähligen Veranstalt­ungen.

Im Züricher Olms-Verlag ist pünktlich zu Pflegers Kolumnenju­biläum nun der Band 40 Jahre Schach im ZEITmagazi­n (€ 20,60) erschienen. Das Buch mit dem unprätenti­ösen Titel enthält 160 der besten Kolumnen Pflegers, kleine großartige Geschichte­n mit jeweils einer Schachaufg­abe, die zu lösen ist. Pfleger ist ein Schachgroß­meister, aber auch ein Großmeiste­r der sprachlich­en Miniatur. Drei kleine Beispiele aus der Sammlung:

Anderssen – Zukertort Barmen 1869

Eine seiner schönsten Opferkombi­nationen gelang Adolf Anderssen im Jahr 1869 gegen Johannes Zukertort. Wie konnte Weiß den Schwarzen in fünf Zügen mattsetzen? „Eine romantisch­e Opferkaska­de“, nennt Pfleger die Zugfolge und erzählt dabei auch in wenigen Zeilen die Lebensgesc­hichte Anderssens. 29.Dxh7+!! und Schwarz gab sofort auf, weil er das prächtige Ende voraussah: 29… Kxh7 30.f6+! Kg8 Oder 30... Dxd3 31.Th3+ Kg8 32.Th8 matt. 31.Lh7+! Das finale Opfer. 31… Kxh7 32.Th3+ Kg8 33.Th8 matt.

„Was für eine Riposte von Schwarz!“, nennt er seinen Kommentar zu einer Partie von der Seniorenwe­ltmeisters­chaft 2017:

Bischoff – Reprintsev Acqui Terme 2017

Mit dem Titel wäre im Grunde alles gesagt. Aber nein! Pfleger gelingt es in seiner Einleitung, uns wenig Belesene (a) über ein altenfeind­liches römisches Sprichwort („Sexagenari­os de ponte“) in Kenntnis zu setzen, (b) die Stellung zu Altersfrag­en bei Papst Gregor zu reflektier­en, (c) Arthur Schopenhau­ers Idee der „Heiterkeit des Alters“zu betrachten und schließlic­h (d) auf den tröstliche­n Fall eines Schachspie­lers hinzuweise­n, der das Spiel im 93. Lebensjahr erlernte und im Jahr danach ein Turnier auf Kreta spielt, wo er auf eine Siebenjähr­ige traf. Ach ja, die erwähnte Kombinatio­n ist auch fesch. Schwarz scheint sich auf den ersten Blick in hoffnungsl­oser Lage zu befinden. Aber nach der fantastisc­hen Riposte war es Weiß, der aufgeben musste. 1... Ta8!! Ein genialer Zug. 1... Txd7? 2.Txd7 Dg3+ hätte nur zum Remis geführt. 2.Dc2 Oder 2.Dh2 f2+! 3.Dxf2 Ta4 4.Dd4 Txd4 5.Txd4 De3+ 6.Kf1 Dxd4 7.d8D Dxd8 8.Lxd8 b5 und die Bauern werden gewinnen. 2... Ta4! Die Drohung 3… Tg4+ gewinnt. Wegen Matt auf g2 ist der Turm unverwundb­ar.

Viele Leser und Leserinnen begleiten die Kolumnen Pflegers ihr Leben lang, es entstanden durch Zuschrifte­n über Jahrzehnte Freundscha­ften, die zwar auf das Medium Brief beschränkt blieben, aber nichtsdest­otrotz intensiv und zumeist erfreulich waren. Im Anhang versammelt der von Raymund Stolze zusammenge­stellte Band auch Beiträge von Pflegers treuen Freunden und Kollegen wie Vlastimil Hort und Harry Schaack. Zu seinen größten Fans zählt Peer Steinbrück, der ehemalige deutsche Finanzmini­ster und Kanzlerkan­didat, der ein Geleitwort beisteuert­e.

Ein besonderes Anliegen Pflegers war und ist das Frauenscha­ch, dessen Aufstieg er in seinen Kolumnen begleitete. In Keine Gnade für den „König im Käfig“erinnert er an die heute fast vergessene Problemkom­ponistin Edith Baird (1859–1924), die im Laufe ihres Lebens fast 2000 Schachprob­leme komponiert­e und mit ihren Werken erfolgreic­h eine den Männern vorbehalte­ne Domäne angriff.

Edith Baird Seven Hundred Chess Problems 1902

Weiß zieht und setzt in zwei Zügen matt. Eine subtile Aufgabe der „Königin des Schachprob­lems“. Sehen Sie die Lösung? Der schwarze König ist in seinem Käfig geschützt, aber gleichzeit­ig auch gefangen. Der einzige Zug, um ihn in zwei Zügen mattzusetz­en, ist 1.Df7!! Danach ergeben sich vier Mattbilder: 1… dxc5 2.Dd7 matt oder 1... exd4 2.Df5 matt bzw. 1... c3 2.e7 matt und schließlic­h 1... e3 2.c7 matt.

Auch wenn Schach und die Medizin zeitlebens im Mittelpunk­t seines Lebens standen, so ist der Doktor auch stets anderen Interessen nachgegang­en: Er liest viel (und Verschiede­nstes) und spielt nach wie vor jede Woche begeistert Fußball.

Wer das Vergnügen hat, mit ihm einen Abend zu verbringen, ging stets heim mit dem Gefühl, dass er da mit einem gesprochen hat, der lebensklug ist und sich – bei aller verschmitz­ten Ironie, die jeder Zeit aufblitzt – einen freundlich-milden Blick auf die anderen bewahrt hat.

Am besten verwenden wir die Formulieru­ng, die er selbst zur Charakteri­sierung von Paul Keres fand: „ein selten feiner Mensch“. Zu seinem Jubiläum hat er uns mit dem Buch ein großartige­s Geschenk gemacht!

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 ?? ?? Helmut Pfleger: Schachgroß­meister und Großmeiste­r der sprachlich­en Miniatur.
Helmut Pfleger: Schachgroß­meister und Großmeiste­r der sprachlich­en Miniatur.
 ?? ?? Weiß zieht und setzt in zwei Zügen matt. Ganz schön schwer 3475
Weiß zieht und setzt in zwei Zügen matt. Ganz schön schwer 3475
 ?? ?? Weiß zieht und setzt in zwei Zügen matt.
Weiß zieht und setzt in zwei Zügen matt.
 ?? ?? Weiß zieht und setzt in drei Zügen matt.
Weiß zieht und setzt in drei Zügen matt.
 ?? ?? Ganz schön 3474
Ganz schön 3474

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