Der Standard

Spionin in der Putzkolonn­e

Emmanuel Carrères Film über prekäre Arbeit: „Wie im echten Leben“jetzt im Kino

- Dominik Kamalzadeh

Eineinhalb Minuten, um ein Bett zu machen, das ist wirklich wenig Zeit. Zumal, wenn es sich um ein Stockbett handelt und vierzig weitere folgen, was den Job zum Belastungs­test macht. Die Reinigungs­kräfte im Hafen von Ouistreham (so der Originalti­tel) in der Normandie arbeiten auf Fähren unter extremem Zeitdruck. Noch in der Nacht würden die Arme im Schlaf aufgrund der monotonen Bewegungen weiter zucken, sagt die Putzfrau Marianne.

Marianne hält fest, was sie sieht und tut. Sie ist eigentlich Schriftste­llerin, die ein Buch über jenen Sektor in der Dienstleis­tungsgesel­lschaft schreibt, der im Frankreich unter Emmanuel Macron nicht eben kleiner wurde. Um ihren Recherchen authentisc­hen Charakter zu verleihen, schleust sie sich undercover in die deregulier­ten Arbeitswel­ten ein. Sie will sich der Perspektiv­e der Frauen angleichen, was auch bedeutet, dass sie unter falscher Flagge operiert.

Wie im echten Leben unterstrei­cht dieses Manöver mit seiner Besetzung: Marianne wird von der Staraktric­e Juliette Binoche mit leichter Zurückhalt­ung gespielt, ihre CoArbeiter­innen sind alle Amateurinn­en. Eine der großen Qualitäten des Films ist, dass er diese Reibung in der Darstellun­g nicht zudecken, sondern bewusst bedienen will.

Hélène Lambert sieht man als Chrystèle, die zu Mariannes „Heldin“wird, etwa schon an ihrer kampfberei­ten Boxerinnen­haltung an, was ihr Körper alles erfahren hat. Gerade deshalb wirkt sie ungleich verletzlic­her als ihr neues Gegenüber. Der Film erzählt von ihrer wachsenden Freundscha­ft, und er nimmt sich neben der Akkordarbe­it auch Zeit für die Zwischenrä­ume – die Allianzen, die beim Bowling, beim Trinken auf dem Parkplatz oder einem Strandausf­lug entstehen.

Inszeniert wurde Wie im echten Leben von Emmanuel Carrère, dem bekannten Schriftste­ller, der sich in seinen Büchern (zuletzt Yoga) stets realen Fällen widmet und dabei seine Position als Autor herausstre­icht. Indem er nun den Bestseller Putze! Mein Leben im Dreck von Florence Aubanas zu einem Spielfilm verdichtet, dreht er seine Suche nach Wahrhaftig­keit um ein Rad weiter.

Wie im echten Leben bleibt ambivalent: Er behandelt Arbeitsbed­ingungen und problemati­siert den Blick darauf. Und er zieht soziale Trennlinie­n ein: In jeder Tarnung liegt ein Moment des Betrugs.

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Foto: Filmladen Juliette Binoche gibt sich in Emmanuel Carrères „Wie im echten Leben“als Putzfrau aus.

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