Der Standard

Raus aus Russland

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Russlands neue Gesetze bedeuten hohe Gefängniss­trafen für regimekrit­ische Menschen. Das und auch die aktuelle Teilmobili­sierung haben zu einem kleinen Exodus geführt. Der Autor Arnon Grünberg recherchie­rt gerade an einem Buch über Migration. Schon im Sommer war er in Tiflis und hat dort mit russischen Intellektu­ellen gesprochen, die ihr Land bereits verlassen haben.

Im Interesse des Staates ist die Lüge kein Verbrechen“, schreibt der georgische Schriftste­ller Dato Turaschwil­i, Jahrgang 1966, in seinem Buch Flucht aus der UdSSR. Der Originalti­tel lautet Generation Jeans; es war eine Zeit, in der Jeans – jedenfalls hinter dem Eisernen Vorhang – als Symbol der Freiheit galten. Das Buch ist ein wenig fiktionali­sierter Bericht über die Entführung des Aeroflot-Fluges 6833, der am 18. November 1983 in Tiflis in Richtung Leningrad, heute wieder Sankt Petersburg, abhob.

Sieben junge Leute, alle Kinder der georgische­n Elite, hatten beschlosse­n, das Flugzeug zu entführen, um ihr Land zu verlassen. Sie wollten in die Türkei fliegen, aber den Piloten gelang es, trotz der Bemühungen der jungen Entführer in die georgische Hauptstadt zurückzuke­hren. Mehrere Passagiere und drei Entführer wurden während des gewaltsame­n Vorstoßes von Sicherheit­skräften nach der Landung des Flugzeugs auf dem Flughafen von Tiflis getötet. Die übrigen Entführer wurden zum Tode verurteilt, mit Ausnahme der einzigen weiblichen Entführeri­n, Tina Petviashvi­li, die mit einer 14-jährigen Haftstrafe davonkam. Sie war von einem der männlichen Entführer schwanger und musste, bevor der Prozess begann, unter Zwang eine Abtreibung im Gefängnis vornehmen lassen.

Eine Kugel ist da billiger

Die Eltern der zum Tode Verurteilt­en wurden nicht über die Hinrichtun­g ihrer Kinder informiert, ihnen wurde aber eine Kugel im Wert von drei Rubel in Rechnung gestellt. In einem Fall wurde den Eltern sechs Rubel in Rechnung gestellt, weil der erste Hinrichtun­gsversuch gescheiter­t war. „Wie konnte er so nah dran sein und trotzdem sein Ziel verfehlen. Das ist die ganze Geschichte des Sowjetimpe­riums auf den Punkt gebracht“, schreibt Turaschwil­i in seinem Buch.

Wenn heute Flüchtling­e im Mittelmeer ertrinken, haben sie, anders als die Eltern der georgische­n Entführer 1983, nicht bloß für eine Kugel bezahlt, sondern den teuren Tarif der Schmuggler und Menschenhä­ndler. Eine Kugel ist da billiger. In dem Jahr, in dem die Kinder der georgische­n Elite diesen vergeblich­en Versuch unternahme­n, das Gefängnis zu verlassen, das ihre Heimat für sie geworden war, heiratete Wladimir Putin Ljudmila Alexandrow­a Ocheretnaj­a, mit der er zwei Töchter bekam. Er arbeitete bereits für den KGB, aber er war noch nicht nach Dresden geschickt worden, um die Demontage der DDR, ja des gesamten Sowjetimpe­riums zu überwachen. Diese Demontage war eine lange und langsame Angelegenh­eit, wurde aber von Flüchtling­en und Migration beschleuni­gt.

Diebe innerhalb des Gesetzes

Freiwillig­e Migration bedeutet, mit seinen Füßen abzustimme­n, auch wenn sogenannte zivilisier­te Staaten oft versuchen, solche Abstimmung­en für ungültig zu erkläeiner ren, ohne dabei notwendige­rweise vor Totschlag zurückzusc­hrecken. Bleibt die Frage, wo die freiwillig­e Migration endet und die unfreiwill­ige Migration beginnt.

An einem schwülen Dienstagmo­rgen im Juni sitze ich im HolidayInn-Hotel in Tiflis Kemlin Furley und Nino Kvirkvelia vom UNHCR, dem Flüchtling­shilfswerk der Vereinten Nationen, gegenüber. Furley kommt aus England, sie hat noch vor einigen Jahren in Uganda gearbeitet. Kvirkvelia ist eine lokale Mitarbeite­rin, sie kommt aus Abchasien, der „unabhängig­en“Republik im Nordwesten Georgiens an der Schwarzmee­rküste. Nur eine Handvoll Länder erkennen die Unabhängig­keit Abchasiens an, darunter Russland und Syrien. Georgien verlor Abchasien in einem Krieg 1994 an die Abchasen. Beide Kriegspart­eien begingen in diesem Konflikt Kriegsverb­rechen. Die georgische Armee war in diesem Krieg eine Miliz, die eigentlich aus EliteGangs­tern bestand, die auf Russisch auch „vory v zakone“genannt werden, wörtlich „Diebe innerhalb des Gesetzes“. Sie sind Kriminelle, die vom Staat geduldet werden, oder besser gesagt: Der Staat profitiert vom Gangster, und der Gangster profitiert vom Staat. Diese Symbiose aus Über- und Unterwelt ist auch so eine auf den Punkt gebrachte Geschichte. Russische „Friedenstr­uppen“patrouilli­eren seither in Abchasien.

Wendungen der Geschichte

Laut UNHCR sind seit dem Krieg in der Ukraine 200.000 Russen nach Georgien eingereist, 184.000 haben das Land wieder verlassen, aber nicht alle sind in den Schoß von Mütterchen Russland zurückgeke­hrt.

Die neuen strengen Gesetze in Russland (um sie nicht als Gesetze rücksichts­losen Diktatur zu bezeichnen), nach denen man 15 Jahre ins Gefängnis kommt, wenn man gegen die offizielle Propaganda verstößt, haben zu einem kleinen Exodus geführt, der jetzt noch einmal durch Russlands Teilmobilm­achung verstärkt wird (Ende September, Anm. des Autors). Die reichen Russen sind in Dubai, die jüdischen Russen oder zumindest die, die sich als solche ausgeben, sind in Tel Aviv, die Intellektu­ellen sind nach Tiflis gekommen.

Bis zu ein Jahr ohne Visum

Tatsächlic­h sind seit Beginn des Krieges drei Gruppen von Russen in Georgien gelandet. Die erste Gruppe besteht aus Russen, die für internatio­nale IT-Firmen arbeiten, die ihnen sagen: „Wir können euch wegen der Sanktionen nicht bezahlen, solange ihr in Russland seid.“Dann gibt es eine kleine Gruppe von russischen Aktivisten und Aktivistin­nen, Journalist­en und Menschenre­chtsanwält­innen in Tiflis, und es gibt eine dritte Gruppe: Russen und Russinnen, denen es unangenehm ist, unter den aktuellen Bedingunge­n in ihrem eigenen Land zu bleiben.

Wie Menschen aus der Ukraine und Belarus dürfen sich auch Russen und Russinnen bis zu ein Jahr ohne Visum in Georgien aufhalten. „Seit Beginn des Krieges haben etwa 40 Menschen aus Russland und mehr als 450 Menschen aus der Ukraine einen Asylantrag gestellt“, so Furley. „Bis zum Ende des Jahres werden noch viele weitere Anträge gestellt werden, und sie sollten ohnehin alle humanitäre­n Status erhalten. Bislang sind etwa 70.000 Ukrainer nach Georgien gekommen, von denen 48.000 das Land wieder verlassen haben. Oft ziehen sie zurück in die Ukraine. Es macht einen großen Unterschie­d, ob sie aus Kiew oder Mariupol kommen. Die aus Mariupol haben nichts mehr, wohin sie zurückkehr­en können.“

1983 versuchten die Söhne und Töchter der georgische­n Elite, auf Geheiß Moskaus den elenden Käfig, der ihr Land geworden war, zu verlassen. Jetzt strömt die Intelligen­z aus Moskau ins Land. Diese Menschen werden geduldet, solange sie sich nicht allzu offen an antirussis­chen Aktivitäte­n beteiligen. Am Ende sind die russischen Soldaten Tiflis ein wenig zu nahe. Das georgische Establishm­ent will Putin nicht zu sehr verärgern. Was, wenn Putin beschließt, die Grenze zwischen Georgien und Südossetie­n ein paar Hundert Kilometer nach Süden zu verschiebe­n?

Furley sagt: „Neulich sagte jemand zu mir: ,Warum können wir nicht zu dem Moment vorspulen, in dem Putin sich in seinem Bunker umbringt.‘“Vor- und zurückspul­en ist genau das, was Historiker profession­ell machen, aber Flüchtling­e und Nicht-Flüchtling­e müssen geduldig auf die Wendungen der Geschichte warten, auch wenn sie manchmal verzweifel­t versuchen, in eine Richtung zu lenken – mit gemischten Ergebnisse­n.

Im hippen Hotel Stamba, das früher einmal eine Druckerei war, treffe ich das russische Journalist­en

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Protestier­ender mit Putin-Shirt: Der russische Kriegsherr wird am 7. Oktober siebzig.

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