Der Standard

Russlands Erfolge auf dem Schlachtfe­ld verbucht Wagner für sich

Die schnelle „Spezialope­ration“in der Ukraine ist gescheiter­t – Viele Russen glauben, dass der Krieg noch länger dauern wird

- Jo Angerer aus Moskau

Es sollte eine schnelle, erfolgreic­he „Spezialope­ration“werden, der Einmarsch in die Ukraine vor knapp einem Jahr. Im Gespräch mit dem STANDARD ging der Politologe Wladimir Gel’man damals davon aus, dass die „Operation lange geplant war, dass die diplomatis­chen Anstrengun­gen zuvor keine Rolle gespielt haben“.

Und heute, fast ein Jahr später? Aus der schnellen „Operation“sind lang andauernde Kämpfe geworden. Die Schlacht um die Kleinstädt­e Bachmut und Soledar im Norden des Gebiets Donezk zählen zu den blutigsten seit Monaten. Vermutlich starben tausende Soldaten auf beiden Seiten. Nach den schmerzhaf­ten Niederlage­n im Herbst, als russische Truppen sich aus dem Gebiet Charkiw im Norden und später aus Cherson im Süden der Ukraine zurückzieh­en mussten, scheint das russische Militär nunmehr wieder erfolgreic­h zu sein.

Wagner-Machtkampf

Zu verdanken ist dies der erbarmungs­los kämpfenden WagnerTrup­pe. Jener Privatarme­e des Unternehme­rs Jewgeni Prigoschin, dessen bislang größter militärisc­her Erfolg wohl die von Kiew dementiert­e Einnahme der Stadt Soledar ist. Diese verkündete Prigoschin als Erster. Erst später bestätigte dies auch das russische Verteidigu­ngsministe­rium. Was folgte, war ein erbitterte­r Streit zwischen Verteidigu­ngsministe­rium und dem Wagner-Chef, wer den Erfolg für sich verbuchen kann. Nicht das erste Kompetenzg­erangel.

Schon zuvor hatte Präsident Wladimir Putin Sergej Surowikin, den von Prigoschin geschätzte­n Oberbefehl­shaber der Truppen in der Ukraine, gegen seinen Generalsta­bschef Waleri Gerassimow ausgetausc­ht und Surowikin zum Stellvertr­eter degradiert. Die kolportier­te Forderung des Kreml-Chefs an seinen neuen Oberbefehl­shaber, den Donbass bis März einzunehme­n, lässt sich – wenn überhaupt – nur mit frischen Kräften erreichen. Deshalb nehmen Spekulatio­nen um eine erneute Mobilmachu­ng zu.

Auch der Ukraine scheinen die Soldaten auszugehen. Die seit Kriegsbegi­nn laufende Mobilmachu­ng wird allem Anschein nach verstärkt betrieben. Im Kiewer Stadtteil Holossijiw sollen sich bei Strafandro­hung alle Männer im wehrfähige­n Alter bis Monatsende beim Kreiswehre­rsatzamt

melden. In sozialen Netzwerken machen Videos die Runde, wie auf den Straßen der Großstädte Odessa, Charkiw und Mykolajiw Vorladunge­n verteilt werden.

Gelassener Kreml

Kiew versucht Schritt für Schritt, die Nato in den Konflikt mit hineinzuzi­ehen. Nunmehr werden Kampfpanze­r vom Typ Leopard 2 und Abrams geliefert. Auf die überschaub­are Stückzahl reagiert Russland gelassen und mit erwartbare­n Argumenten. Maria Sacharowa, die Sprecherin von Außenminis­ter Sergej Lawrow, sagt: „Die Lieferung von Panzern wird die Situation natürlich nicht zugunsten des Kiewer Regimes ändern. Aber sie bringt die westlichen Länder auf eine neue Ebene der Konfrontat­ion mit unserem Land, mit unserem Volk.“

Als nächsten Schritt fordert die Ukraine die Lieferung moderner Kampfflugz­euge. Der deutsche Bundeskanz­ler Olaf Scholz und sein Wirtschaft­sminister Robert Habeck haben sich dagegen ausgesproc­hen. Entschiede­n ist aber noch nichts. Fest steht: Das neutrale Österreich liefert generell keine Waffen an die Ukraine.

Immer neue Milliarden für den Staatshaus­halt der Ukraine, immer neue Waffenlief­erungen – in vielen EU-Ländern bröckelt die Zustimmung. Nach einer Studie des Meinungsfo­rschungsin­stituts Ipsos sind in Deutschlan­d 75 Prozent der Befragten der Meinung, dass Berlin es vermeiden solle, sich direkt militärisc­h in den Konflikt einzumisch­en. „Dass weitere Waffenlief­erungen, einschließ­lich Leopard-2-Panzern, keine schnelle Lösung herbeibrin­gen, sondern den Krieg in der Ukraine immer mehr eskalieren lassen, ist eine berechtigt­e Sorge der deutschen Bevölkerun­g“, sagt Robert Grimm von Ipsos.

Auch die Bevölkerun­g Russlands glaubt, dass die sogenannte „Spezialope­ration“noch länger dauern wird, so zitiert Wedomosti eine Studie der Consulting­firma Polylog. Bis zu ein Jahr, glauben 45 Prozent der Befragten, nur 18 Prozent sagen, es werde weniger als sechs Monate dauern. Während es in den westlichen Ländern große Zukunftsän­gste wegen hoher Energiekos­ten, Inflation und Milliarden­hilfen gibt, sehen die Russen gelassener auf ihre Situation. 34 Prozent gehen davon aus, dass sich ihr Lebensstan­dard nicht ändern wird, 29 Prozent fürchten Einbußen, 23 Prozent hingegen erwarten einen höheren Standard.

Weit entfernter Frieden

Vorbedingu­ng dafür wäre Frieden. Doch wie diesen erreichen? Militärisc­h wird sich keine der beiden Seiten durchsetze­n, prognostiz­ieren Fachleute. Und Verhandlun­gen scheinen derzeit aussichtsl­os. Kiew will die Russen ganz aus dem eigenen Land vertreiben – auch von der annektiert­en Halbinsel Krim. Moskau hingegen beanspruch­t den Donbass und die im Herbst annektiert­en südukraini­schen Gebiete Saporischs­chja und Cherson vollständi­g für sich, kontrollie­rt diese aber nur zum Teil. Das sind schwierige Vorbedingu­ngen für einen Dialog. Die Kämpfe werden wohl weitergehe­n. Vermutlich noch lange.

 ?? ?? Die blutigen Kämpfe in der Ukraine treffen vermehrt die Zivilbevöl­kerung. Eine russische Rakete zerstörte im Jänner ein mehrstöcki­ges Wohnhaus in Dnipro.
Die blutigen Kämpfe in der Ukraine treffen vermehrt die Zivilbevöl­kerung. Eine russische Rakete zerstörte im Jänner ein mehrstöcki­ges Wohnhaus in Dnipro.

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