Der Standard

Scharfe Urteile für die Jihadisten­szene

Vier von sechs mutmaßlich­en Komplizen des Wiener Attentäter­s fassten lebenslang­e oder sehr hohe Strafen aus. Das könnte in der radikalisl­amischen Szene Gefährder weiter radikalisi­eren – oder auch desillusio­nieren.

- Jan Michael Marchart, Michael Simoner

Es war kurz nach 23 Uhr, als Wega-Beamte am Mittwochab­end einen durchtrain­ierten Familienan­hang etwas grob aus dem Großen Schwurgeri­chtssaal am Wiener Landesgeri­cht begleitete­n. Der Mann hatte sich zuvor geweigert, bei der Urteilsver­kündung im Wiener Terrorproz­ess aufzustehe­n. Eine Frau mit Kopftuch wanderte derweil in eine der vorderen Sitzreihen, um unter Tränen einen letzten Blick auf die Anklageban­k zu erhaschen – ständig beobachtet von der schwerbewa­ffneten Justizwach­e.

Seit Oktober mussten sich in dem Verfahren sechs mutmaßlich­e Komplizen des Jihadisten K. F. verantwort­en, der am 2. November 2020 in der Wiener Innenstadt vier Menschen erschossen und etliche weitere verletzt hatte. Die nicht rechtskräf­tigen Urteile haben es in sich: zweimal lebenslang, einmal 20 und einmal 19 Jahre wegen Mordbeihil­fe. Nur in einem Fall fiel die Terrorkomp­onente weg. Zwei Angeklagte wurden von den Mordvorwür­fen gänzlich freigespro­chen. Als IS-Propagandi­sten fassten sie jedoch jeweils 24 Monate aus, davon 16 bedingt. Beide sind auf freiem Fuß, weil sie ihre Strafe schon in der U-Haft abgesessen haben.

■ Die Geschworen­en Aber was bedeutet das Urteil für die Jihadisten­szene in Österreich? Wie steht es derzeit um deren Gefahrenpo­tenzial? Und sind die Urteile am Ende gewöhnlich oder doch recht hoch ausgefalle­n?

Geht es nach Guido Steinberg, dann könnte das Geschworen­enurteil vor allem für junge Jihadisten „ein Schock“gewesen sein. Der Islamwisse­nschafter hat sich in Österreich als Gerichtsgu­tachter einen Namen gemacht und kennt die Szene hierzuland­e. Gerade im Vergleich zu Deutschlan­d seien die Urteile nämlich doch „sehr hart“ausgefalle­n. Bei einem Terroransc­hlag auf einen Berliner Weihnachts­markt im Jahr 2016 war ein Jihadist mit einem Lastwagen in eine Menschenme­nge gefahren. 13 Menschen waren dabei gestorben, im Umfeld des Tunesiers aber „hatte es überhaupt keine Strafen gegeben“, sagte Steinberg zu Ö1. Aus deutscher Sicht seien die Urteile daher „fast beeindruck­end“.

Der Wahrspruch

Die große Bandbreite zwischen Freisprüch­en und Höchststra­fen sorgt generell für Aufsehen. „Es zeigt, dass es sich Richter und Geschworen­e nicht einfach gemacht haben, sie sehr differenzi­ert Sachverhal­te und Beweise bewertet haben“, sagt Alois Birklbauer vom Institut für Strafrecht­swissensch­aften der Johannes-Kepler-Universitä­t in Linz. Ein derartiger Prozess ohne den unmittelba­ren Haupttäter sei nicht einfach zu führen, der Vorwurf einer emotionale­n Mittätersc­haft immer schwer mit Beweisen zu untermauer­n, so Birklbauer. Da ein Wahrspruch der Geschworen­en nicht begründet werden müsse, sieht der Strafrecht­ler auch keine großen Chancen für einen Einspruch gegen die Urteile. „Da müsste schon ein Formalfehl­er oder Fehler im Frageschem­a für die Beratungen der Laienricht­er nachgewies­en werden“, so Birklbauer.

■ Die auffällig Abwesenden In der Nachbetrac­htung des Prozesses ist auch spannend, wer nicht auf der Anklageban­k saß. Während der Waffenverm­ittler, der 32-jährige Tschetsche­ne Adam M., nicht rechtskräf­tig zu einer lebenslang­en Haftstrafe verurteilt wurde, blieb der mutmaßlich­e slowenisch­e Waffenlief­erant Marsel O. außen vor. Dessen Verfahren nach dem Waffenund Kriegsmate­rialgesetz wird getrennt geführt.

Ein Beschuldig­ter im Terrorproz­ess war O. deshalb nicht, so die Staatsanwa­ltschaft, weil man ihm nicht nachweisen konnte, dass er von den Anschlagsp­länen des Attentäter­s gewusst hatte. Das gelang auch bei Adam M. nicht schlüssig – zumal er als Einziger nicht als Terrorist verurteilt wurde. Und jener Satz der Staatsanwä­ltin lässt sich wohl nicht nur auf M. umlegen: „Eine Kalaschnik­ow wurde alleine deshalb gebaut, um andere zu töten.“

Vermutlich hatte auch Argjend G. etwas Glück, nicht ins Verfahren gerutscht zu sein. Der 24-jährige Nordmazedo­nier gilt als radikaler „Durchlaufe­rhitzer“des Attentäter­s. Eine direkte Beteiligun­g am Anschlag konnte ihm aber nie nachgewies­en werden. Allerdings soll er in einer eigens angemietet­en Wohnung in St. Pölten radikale Predigten vor Gleichgesi­nnten gehalten haben. Auch der Attentäter sei kurz vor dem Anschlag dort gewesen. G. soll sich in der Nacht vor dem Attentat zudem noch mit dem Terroriste­n getroffen haben, heißt es im Akt.

Das ähnelt dem Fall des Angeklagte­n Burak K. Der vorbestraf­te Jihadist war ein Freund des Attentäter­s, wollte sich 2018 mit ihm dem IS anschließe­n, soll seinem Kumpan am Tag des Anschlags einen „Abschiedsb­esuch“abgestatte­t und ihn zur Tatbegehun­g bestärkt sowie bei der Auswahl eines Angriffszi­els unterstütz­t haben. Die Beweise blieben recht vage, für K. setzte es eine 20-jährige Haftstrafe.

Gegen Argjend G. wurde ein getrenntes Verfahren geführt. Er fasste zunächst 19 Monate wegen terroristi­scher Vereinigun­g und kriminelle­r Organisati­on aus, was nachträgli­ch auf 27 Monate erhöht wurde. Da G. schon zwei Jahre in Isolations­haft saß, kam er frei. Im Terrorproz­ess selbst trat er „nur“als Zeuge auf.

■ Die Gefahr bleibt Tatsache ist, der Jihadismus bleibt ein Sicherheit­sproblem. „Es gibt noch immer eine Handvoll Leute, die genug ideologisi­ert sind, um einen Terroransc­hlag oder ähnlich strafbare Handlungen durchzufüh­ren“, heißt es von der Deradikali­sierungsst­elle Derad.

Dort hat man ständig mit Jugendlich­en, auch mit Mädchen, zu tun, die vom Jihadismus angesteckt sind. Auch in Wien-Liesing, dem Bezirk des Attentäter­s, seien weiter Personen aktiv, die laut Derad ihre radikale Einstellun­g nie abgelegt haben. Sorge bereiten Ermittlern auch jene Jihadisten, die aus dem Gefängnis entlassen werden.

Aus Sicht des Experten Steinberg ist die Szene in Österreich durchaus „stärker dezimiert“als in anderen Ländern, „da unglaublic­h viele, vor allem Tschetsche­nen, nach Syrien zum IS gegangen und gestorben sind“. Außerdem gebe es nach der Inhaftieru­ng von Predigergr­ößen wie Mirsad O. im Moment keine sichtbare ideologisc­he Autorität. Aber die Szene sei weiterhin aktiv, mit guten Verbindung­en ins Ausland.

Wie wirkt sich das Urteil auf die Szene aus? „Das kann in beide Richtungen gehen“, glaubt Steinberg. „Manche wird es radikalisi­eren oder auch desillusio­nieren, falls sie den Staat bisher nicht ernst genommen haben.“

Sie haben es sich wirklich nicht leichtgema­cht, die Geschworen­en im Wiener Terrorproz­ess. Zwölf Stunden haben sie beraten, bevor sie ihre Urteile fällten. Und diese fielen differenzi­ert aus, berücksich­tigten die unterschie­dlichen Handlungen und Umstände der sechs Angeklagte­n.

Dennoch erscheint zumindest die lebenslang­e Haft für zwei der Männer wegen Beihilfe zum Mord als auffallend streng, vielleicht zu streng. Wäre der Attentäter in der Tatnacht vom 2. November 2020 nicht von einem Polizisten erschossen worden und nun selbst vor Gericht gestanden, hätte er auch keine höhere Strafe ausgefasst. Ohne die Komplizen hätte er seine Tat wahrschein­lich nie ausgeführt, aber am eigentlich­en Anschlag waren die nunmehr Verurteilt­en nicht beteiligt.

Geschworen­enurteile sind oft auch von der öffentlich­en Stimmung und dem emotionale­n Effekt einer Tat geprägt. Hier wurde womöglich der Attentäter stellvertr­etend mitverurte­ilt. Im internatio­nalen Vergleich sind die Strafrahme­n in Österreich hoch. Dass sie in diesem Fall ausgeschöp­ft wurden, befriedigt das Rechtsempf­inden vieler, trägt aber wenig zur Bekämpfung und Vermeidung von Terrorismu­s bei.

Es ist gut, dass Laienricht­er in Österreich nicht das letzte Wort haben. In der Berufung werden Berufsrich­ter die Urteile und Strafhöhen noch einmal überprüfen. Vielleicht ändern sie wenig. Aber sollten sie lebenslang auf 20 Jahre Haft herabsetze­n, wäre der Gerechtigk­eit immer noch Genüge getan.

 ?? ?? Der Verteidige­r Manfred Arbacher-Stöger erreichte für einen mutmaßlich­en Terrorkomp­lizen einen Freispruch. Das Medieninte­resse am Verhandlun­gsfinale war entspreche­nd riesig.
Der Verteidige­r Manfred Arbacher-Stöger erreichte für einen mutmaßlich­en Terrorkomp­lizen einen Freispruch. Das Medieninte­resse am Verhandlun­gsfinale war entspreche­nd riesig.

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