Spiele, die das Leben schreibt
Intelligente Spielwelten könnten künftig virtuelle Spielwelten aus Erfahrungen, Vorlieben und Gewohnheiten der Nutzerinnen und Nutzer im realen Leben generieren.
Uniformierte bewaffnete Männer mit Gasmasken streifen durch die Canal Street in New York City. Das Straßenschild ist niedergerissen, die Stadt verwüstet. Ein Mann springt von einem Hochhaus, und dann geht alles ganz schnell. Stark verpixelte Bilder poppen blitzartig auf. Eine Gruppe junger Männer posiert für ein Foto, eine Spritze, eine Kanüle, gefüllt mit roter Flüssigkeit, Namen sind zu lesen, wieder Bilder von Einzelpersonen und am Ende der Schriftzug „Prototype“.
Was auf den ersten Blick wie ein in die Jahre gekommener Trailer für ein Computerspiel wirkt – das Video stammt aus dem Jahr 2009 –, ist viel mehr als das: Denn die Bilder, Namen und Schriftzüge zwischen den Spielsequenzen stammen von Alexander Pfeiffers privatem Facebook-Account.
Via Facebook Connect konnte sich Pfeiffer – heute Mitarbeiter am Zentrum für Angewandte Spieleforschung an der Donau-Universität Krems – mit seinem Facebook-Profil für einen individuellen Werbetrailer des Computerspiels anmelden. Damit dieser generiert werden konnte, musste er all seine Daten, Fotos und Postings freigeben. Dass Facebook dieses Video bereits 2009 erstellen konnte, beeindruckt Pfeiffer heute mehr als damals.
KI legt Spielelemente fest
Der Wissenschafter ist davon überzeugt, dass dieser „Werbegag“vor 14 Jahren eindrücklich zeigt, wie die Zukunft der Spielwelt in zehn Jahren aussehen könnte. Dann nämlich werden Spielwelten mit den eigenen Lebenserfahrungen verbunden. Die aktuelle Forschung deute stark auf eine derartige Entwicklung hin, sagt Pfeiffer.
Möglich machen das unter anderem prozedurale Spielwelten. Elemente wie Grafiken, Musik oder Leveldesign werden von Designerinnen und Designern schon lange nicht mehr ausschließlich vorab bestimmt. Stattdessen legt ein Algorithmus diese Elemente fest und generiert diese je nach Spielverhalten laufend neu. Künstliche Intelligenz (KI) sei im Gaming schon lange eine große Playerin. Es gehe so weit, dass sie als Autorin des Spiels agiert, erklärt Pfeiffer. Sie konstruiert nicht nur die Welt, sondern auch die Figuren und adaptiert den Spielverlauf.
Die KI lernt aus dem Spielverhalten, wo Spielende zögern oder verweilen, wo sie sich besonders schwertun, ein Hindernis zu überwinden und was ihnen dagegen leichtfällt. Je nach Ziel des Games kommen gewisse Szenarien dementsprechend häufiger vor – zumindest bis zu einem gewissen Grad. „Es soll auch nicht langweilig werden“, sagt Pfeiffer. So weit der Status quo.
Individuelles Spielverhalten
Denn der Individualisierungsgrad werde immer stärker. Der Zukunftstrend gehe laut Pfeiffer über Spielsituationen buchstäblich hinaus. Algorithmen könnten sich künftig nicht nur auf Erfahrungen in den Spielen berufen, sondern auch auf die des realen Lebens. Vorausgesetzt, die Spielenden lassen dies zu.
Besitzt der Spieler etwa eine Katze und weiß das Spiel davon, könnten auch in diesem vermehrt Katzen auftauchen, sagt Pfeiffer. Raucht die Spielerin gerne Zigarre, könnten in einem Geschäft im Game kubanische Zigarren in der Auslage liegen.
Die Prämisse sei, dass es zum Spiel passe: In einem Mittelalterspiel würde selbstverständlich kein Renault durch die Straßen fahren, nur weil die Spielerin dieses Auto auch im echten Leben fährt. Es gehe aber darum, die Spielwelt an die Person anzupassen. „So sehr, dass sie sich zu Hause fühlt und trotzdem Abenteuer erlebt, die es in der realen Welt eben nicht gibt“, sagt Pfeiffer.
Dinge, die wir gerne haben oder vor denen wir uns fürchten, könnten also plötzlich im Spiel auftauchen. Wer Angst vor Clowns hat, könnte diesen in einem Horrorspiel begegnen. In demselben Spiel könnte eine Person mit Arachnophobie mit Spinnen konfrontiert sein. Positiv eingesetzt, können sogenannte Serious Games Heilungsprozesse auslösen. „Im negativen Sinn können Spielende überwacht werden“, sagt Pfeiffer.
Wenn die Datenkrake zugreift
Die Frage, die sich in diesem Szenario allerdings rasch stellt: Woher stammen die Daten? Es sei klar, dass man dem Spiel erlaube, das Spielverhalten zu analysieren. Auf die Geokoordinaten etwa oder Social-Media-Kanäle haben Algorithmen aber nur Zugang, wenn dieser von Spielenden gewährt wird. Daten würden aber gerade während des Spielens häufig freigegeben, weiß Pfeiffer.
„Es macht Spaß, und für einen Spielvorteil gibt man rasch Daten preis“, sagt der Forscher. Er selbst habe eifrig Pokémons gesammelt, und als das Spiel ihn nach Zugriff auf seine Geokoordinaten gefragt habe, habe er diese freigegeben und sich gefreut, „weiter Eier ausbrüten zu können, ohne dass die App aktiv offen sein muss“.
Dass das Spiel damit zu jedem Zeitpunkt – auch wenn er nicht gespielt habe – gewusst habe, wo er sich aufgehalten habe, sei ihm erst später gedämmert. Erst nach einem halben Jahr habe er die Funktion deaktiviert – zu gern habe er Pokémon Go gespielt. „Da geht schnell ein ‚rabbit hole‘ auf“, sagt Pfeiffer: „Über ein Spiel gibt man viel von sich preis. Das ist die größte Gefahr.“
Angesichts der aktuellen Datenschutzlage müssten Hersteller den Userinnen und Usern das Klicken auf Datenfreigabe schmackhaft machen, sagt Pfeiffer. Umgekehrt müsse man als Spieler aufpassen, worauf man klicke. Wichtig sei jedoch, dass die Person, die die Entscheidung treffe, um die Konsequenzen wisse.
Prototypen gibt es bereits
Aktuell gebe es noch nichts öffentlich Spielbares, das auf Erfahrungen aus dem echten Leben zurückgreife. Die Forschung zeige aber, dass stark daran gearbeitet werde. Auch Prototypen gingen bereits in diese Richtung. Laut Pfeiffer stellt sich nicht die Frage, ob, sondern wann sich Spielehersteller „trauen, damit rauszugehen und es auch als Spiel zu benennen“.
Dass es funktionieren würde, sei unumstritten. Man sei an einem extremen Wendepunkt angelangt, was die Technologieentwicklung betreffe. „In drei bis vier Jahren können wir bestimmt auf viele Spiele zurückblicken und beurteilen, was gut und schlecht war“, sagt Pfeiffer.
Den Werbetrailer zum Spiel Prototype 2, der Pfeiffers Bilder und Postings eingearbeitet hat, findet der Forscher rückblickend „sehr beeindruckend“. Seine Daten würde er wohl auch heute wieder dafür hergeben.