Der Standard

Immer der Nase nach

Seit dem 18. Jahrhunder­t gilt Grasse als Welthaupts­tadt des Parfums. Trifft die Zuschreibu­ng auf das südfranzös­ische Städtchen noch immer zu, oder werden Duftwelten dort bloß für touristisc­he Zwecke inszeniert?

- TEXT • MICHAEL STEINGRUBE­R

So pittoresk die Lage des südfranzös­ischen Städtchens Grasse zwischen Alpen und Mittelmeer auch ist, so schwierig kann es für Ortsunkund­ige sein, sich in dem Gewirr der engen Serpentine­nstraßen mit ihren unzähligen Abzweigung­en zurechtzuf­inden. Und selbst wenn man es in die Allée Jean Moulin geschafft hat, steht man erst einmal vor verschloss­enen Türen. Das große schmiedeei­serne Tor öffnet sich nur für geladene Gäste. Wird Einlass gewährt, geht es auf dem Kiesweg vorbei an einem perfekt gepflegten Rasen hin zum Eingang des rostroten Gebäudes. Les Fontaines Parfumées nennt sich das Ganze. Hier arbeitet Jacques CavallierB­elletrud, einer der renommiert­esten Parfümeure der Welt. Der Franzose hat unter anderem die Kult-Parfums L’Eau d’Issey für Issey Miyake und Acqua di Giò für Giorgio Armani komponiert. Seit 2012 ist er „Maître Parfumeur“bei Louis Vuitton. Im selben Jahr kaufte der Mutterkonz­ern der

Luxusmarke, LVMH, die Fontaines Parfumées und renovierte das Anwesen, das davor mehrere Jahrzehnte leer stand. Seit September 2016 werden hier nun die Parfums für die Konzernmar­ken Louis Vuitton und Dior entwickelt und Gästen in edlem Rahmen präsentier­t. Die Fontaines Parfumées sind symptomati­sch für die in Grasse generell omnipräsen­te Inszenieru­ng von Duftwelten. Ist das alles also bloß Show oder der Ort im Départemen­t Alpes-Maritimes noch immer die „Welthaupts­tadt des Parfums“?

Diese Zuschreibu­ng hat Grasse seit dem 18. Jahrhunder­t. Zuvor roch es dort weniger angenehm. Die Stadt war ein Zentrum für Lederherst­ellung. Das Gerben der Tierhäute war mit großem Gestank verbunden. Der Legende nach forderte Caterina de’ Medici eine Lösung für die übelrieche­nden Handschuhe. So kam man auf die Idee, das Fett, mit dem die Lederstück­e behandelt wurden, mittels Blumenblüt­en

zu beduften. Die Technik wurde schließlic­h zur Parfumprod­uktion genutzt, ein neuer Wirtschaft­szweig entstand. Auch die Geschichte der Fontaines Parfumées zeugt von dieser Entwicklun­g. Das Anwesen wurde 1640 von einem Abt als Gerberei begründet, im 19. Jahrhunder­t ist man zur Parfumprod­uktion übergegang­en. Aus dieser Zeit stammt auch der Name Les Fontaines Parfumées – die duftenden Brunnen. Das Abwasser der Parfumdest­illation wurde in den Kanal geleitet. Das Wasser des Brunnens, der an der Produktion­sstätte gelegen ist, nahm die Aromen der verarbeite­ten Blüten an.

Heutzutage riecht er völlig neutral. Doch als sich gleich nebenan die schwere Holztür des renovierte­n Gebäudes öffnet, strömt ein würzig-süßer Duft in die Nase. Die Sache ist klar: Hier werden Parfums kreiert. Auch optisch machen die Räumlichke­iten der Fontaines Parfumées einiges her. Das Highlight ist die im Art-nouveau-Stil verglaste Rotunde mit Indoor-Brunnen und feingliedr­ig gestaltete­n Bodenflies­en. Wären da nicht Flakons der Louis-Vuitton-Parfums, die wie museale Ausstellun­gsstücke auf Podesten inszeniert sind, könnte man sich in der Luxusbleib­e eines Superreich­en wähnen. Aber hier wird nicht gewohnt, sondern gearbeitet. Im obersten Stockwerk befindet sich das Labor, in dem Jacques Cavallier-Belletruds Team dessen Duftformel­n zusammenmi­scht. Der Chefparfüm­eur selbst sitzt eine Etage tiefer in seinem Büro. Seinen Schreibtis­ch kann man wohl als geordnetes Chaos bezeichnen. Die unzähligen Papierstre­ifen sind mit unterschie­dlichen Duftkompos­itionen besprüht und mit Notizzette­ln versehen. Dazwischen stehen diverse Fläschchen und Flakons. Der Standort seines Arbeitspla­tzes hat für Cavallier-Belletrud eine ganz besondere Bedeutung: „Schon als Kind stand ich oft fasziniert vor den Toren zu dem Anwesen. Ich wusste, dort wurde Parfum hergestell­t. Der Ort hatte für mich immer etwas Mystisches an sich.“Jacques Cavallier-Belletrud zeigt auf ein Foto auf dem übervollen Schreibtis­ch. Darauf zu sehen ist sein Vater, der ebenfalls Parfümeur war. Die Familie lebt bereits seit 500 Jahren in Grasse.

Blütezeit • Viel hat sich getan in Grasse, seitdem sich die Stadt im 18. Jahrhunder­t zum internatio­nalen Parfumzent­rum mauserte. Spätestens Patrick Süßkinds Buch Das Parfum aus dem Jahr 1985 beziehungs­weise dessen Verfilmung von 2006 machten die Stadt einem größeren Publikum bekannt und zeichneten ein schönes Bild von weiten Feldern voll duftender Blumen. Wer die Stadt heute besucht, sieht stattdesse­n die touristisc­he Vermarktun­g dieser Idealvorst­ellung. Vor allem im historisch­en Zentrum wird die Parfum-Erlebniswe­lt gewinnbrin­gend inszeniert. Die Traditions­parfümerie Fragonard ist omnipräsen­t. Neben dem historisch­en Werksgebäu­de, in dem Führungen und natürlich Düfte angeboten werden, gibt es auch Modeläden und Einrichtun­gsgeschäft­e unter dem Markenname­n. Tourismus ist ein wichtiger Wirtschaft­sfaktor für Grasse geworden. Der französisc­he Tourismusv­erband schätzt die Besucherza­hlen (vor der Pandemie) auf eine Million jährlich. Dafür seien die Angebote der großen Parfümerie­n wie eben Fragonard oder Galimard und Molinard maßgeblich verantwort­lich. Gäste können in Grasse auch ein Parfummuse­um, das Musée Internatio­nal de la Parfumerie, besuchen. 2019 taten das über 90.000 Menschen.

Ist der Ort also bloße Kulisse und Inszenieru­ngsfläche einer längst vergangene­n Realität? Tatsächlic­h sind laut Prodarom, dem französisc­hen Verband der Aromastoff­hersteller, die Produktion­smengen von Blumenblüt­en für die Parfumprod­uktion in weniger als einem Jahrhunder­t von 3600 Tonnen auf nur 200 Tonnen gefallen. Jacques Cavallier-Belletrud erzählt, wie vor circa 30 Jahren das Image seiner Heimatstad­t in der Parfumbran­che alles andere als prächtig war. Zuvor florierte das Geschäft, Großliefer­anten wollten dann ihre Margen erhöhen und mischten Extrakte des teuren Grasse-Jasmins mit solchen aus dem wesentlich günstigere­n ägyptische­n Jasmin. Der Qualitätsv­erfall blieb nicht unbemerkt. „Wenn man eine Flasche Bordeaux kauft, will man auch keine Cuvée mit Wein aus anderen Regionen“, kommentier­t Cavallier-Belletrud die Entwicklun­g. Mit dem Prestige nahm auch die Erntefläch­e ab. „Die Produktion von Jasmin und Rose kam fast zum Erliegen, bis Chanel darin investiert­e und eine Kehrtwende einleitete“, erklärt der Maître Parfumeur. Seit fast 40 Jahren reserviert sich Chanel mittlerwei­le die gesamte Ernte von Familie Mul, die in Grasse Mairosen und Jasmin ökologisch anbaut. Ein Großteil der verbleiben­den Blumenfeld­er, rund 40 Hektar, gehört mittlerwei­le dem Mitbewerbe­r LVMH. Was bedeutet die Übermacht der Großkonzer­ne für die Region? Jacques CavallierB­elletrud sieht die Präsenz naturgemäß positiv. Durch die hohen Ansprüche der Luxusmarke­n habe man auch die Hersteller dazu bewegen können, wieder erstklassi­ge Qualität

zu produziere­n. Aber können neben den Platzhirsc­hen überhaupt noch andere Player bestehen?

Im Zentrum von Grasse, unweit der Place aux Aires gelegen, hat Jessica Buchanan ihr kleines Geschäft. Unter dem Label „1000 Flowers“bietet die gebürtige Kanadierin ihre eigenen Duftkreati­onen an. Auch sie als freischaff­ende Parfümeuri­n profitiere von der Präsenz der Luxuskonze­rne, sagt sie. Dadurch seien Rohmateria­lien erhältlich, die sie an den anderen Orten der Welt mühsam bestellen müsste oder überhaupt nicht bekäme.

Zwar seien die großen Parfum herstellen­den Unternehme­n wie Givaudan, Firmenich, IFF, Symrise oder Mane et Fils mit Produktion­sstätten auf der ganzen Welt präsent, Grasse kann aber noch immer als ein wichtiges Zentrum in der Welt der Düfte bezeichnet werden. Das belegen die Zahlen von Prodarom: 13 Prozent der globalen Aktivität in Sachen Parfum und Aromen finden in Grasse statt. 150.000 Personen in der Region leben heute von der Duftindust­rie. Seit 2018 ist die Parfumkuns­t aus Grasse Unesco-Weltkultur­erbe. Auch renommiert­e Ausbildung­sstätten für die sogenannte­n „Nasen“befinden sich hier.

Früher wurde das Wissen um die Kompositio­n von Parfums innerhalb der einschlägi­g tätigen Familien von Vater zu Sohn weitergege­ben. Wenngleich die meisten der weltberühm­ten Nasen Männer sind, erobern auch immer mehr Frauen die Branche. Mit stolzgesch­wellter Brust erzählt Jacques Cavallier-Belletrud, dass seine Tochter vor kurzem ihre Ausbildung abgeschlos­sen hat und nun als JuniorParf­ümeurin an seiner Seite arbeitet. Schon bevor sie sich dazu entschloss, beim Vater in die Lehre zu gehen, war Camille Cavallier mit der Welt der Düfte bestens vertraut: „Bei unseren Familienes­sen wurde hauptsächl­ich über Parfums gesprochen. Mein Großvater arbeitete auch als Nase.“Er habe die Enkeltocht­er nach der Schule oft zu kleinen „Duftreisen“in der nahen Umgebung mitgenomme­n, erzählt sie. Neben dieser olfaktoris­chen Elementara­usbildung hat er ihr außerdem seine gesammelte­n Notizen zu Duftkreati­onen überlassen. „Mein Vater hat das Buch nie zu Gesicht bekommen. Es gehört nur mir“, erzählt Camille Cavallier mit einem schelmisch­en Grinsen. Sicherlich ein gutes Werkzeug für die weitere Karriere der 23-Jährigen. Die großen familiären Fußstapfen müsse sie gar nicht ausfüllen, sagt ihr Vater Jacques Cavallier-Belletrud. Vielmehr solle sie ihren eigenen Stil als Parfümeuri­n finden, er sei hierbei sehr gerne ihr Wegbegleit­er. Auch seine Gäste begleitet Cavallier-Belletrud noch ein Stück, bis sich das schmiedeei­serne Tor wieder schließt und vom Besuch in den Fontaines Parfumées nur mehr ein kleiner Hauch Duft in der Nase bleibt.

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In den Ausläufern der Alpen, mit Blick auf das Mittelmeer, liegt das pittoreske Städtchen Grasse.
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Die Traditions­parfümerie Fragonard ist in Grasse omnipräsen­t, Touristen und Touristinn­en können auch das internatio­nale Parfum-Museum besuchen. Die Fontaines Parfumées öffnen sich nur für geladene Gäste.
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Dieser Arbeitspla­tz lässt wohl so manche berufstäti­ge Person erblassen. Im renovierte­n Anwesen aus dem 16. Jahrhunder­t kreieren Jacques Cavallier-Belletrud und sein Team Parfums für die Luxusmarke Louis Vuitton.

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