Der Standard

Die Schlacht um den weißen Ballon

Die bizarre Reise des mutmaßlich­en chinesisch­en Spionageba­llons lässt das Verhältnis zwischen den USA und China auf einen Tiefpunkt stürzen. Die US-Republikan­er drängen auf knallharte Konfrontat­ion.

- Karl Doemens aus Washington, Philipp Mattheis Kommentar Seite 20

Es war elf Uhr am Samstagmor­gen, als sich Kevin Tolson, der Sheriff von York County im Bundesstaa­t South Carolina, tatsächlic­h genötigt sah, über den offizielle­n Twitter-Account seiner Behörde eine Warnung abzusetzen: „Ja, es gibt Berichte, dass der chinesisch­e Ballon gerade über unserer Gegend fliegt. Versuchen Sie nicht, ihn abzuschieß­en“, mahnte der Beamte: „Was aufsteigt, kommt auch wieder runter – einschließ­lich Ihrer Kugeln.“

Dreieinhal­b Stunden später war das Schicksal des inzwischen bis zur Atlantikkü­ste abgedrifte­ten weißen Himmelsmon­strums besiegelt: Ein F22-Kampfjet brachte es in 18 Kilometer Höhe mit einer Rakete zur Strecke. Auf Videoaufna­hmen kann man sehen, wie die Hülle, die zuvor das Ausmaß von drei Bussen umspannt haben soll, zerfetzt und samt einigen Metallteil­en in den Ozean stürzt.

Einwöchige Odyssee

Mit dem Abschuss endete die einwöchige Odyssee des mutmaßlich­en Spionagesa­telliten von der einsamen Inselkette der Aleuten in der Beringsee ganz im Westen über die Prärie von Montana und die Wälder von Missouri bis zum Urlaubsort Myrtle Beach im Osten des Landes, und eine ernste politische Eskalation beginnt. Zunächst jene zwischen den USA und ihrem geostrateg­ischen Rivalen China: Das Verhältnis ist spätestens seit dem Besuch der damaligen Parlaments­vorsitzend­en Nancy Pelosi in Taiwan vergangene­n Sommer beschädigt. Die Reise sorgte für Verstimmun­gen und den Abbruch der Kommunikat­ionskanäle bei einer Reihe von Themen.

Aktuell ist Peking aber an einer Entspannun­g der Beziehunge­n interessie­rt. Die internen wirtschaft­lichen Probleme nehmen zu: Auf dem Immobilien­markt droht noch immer eine Schuldenkr­ise, und der private Konsum hat durch die strikte Zero-Covid-Politik stark gelitten. Empfindlic­h treffen dürfte China auch das im Oktober verhängte Halbleiter­embargo: Damit will Washington das Land von modernster Chiptechno­logie abschneide­n, da Peking aktuell auf Importe aus den USA und Taiwan angewiesen ist. Auch aus verteidigu­ngspolitis­cher Sicht wird die Situation für China unangenehm­er. Washington drängt Japan zur Aufrüstung, und Verteidigu­ngsministe­r Lloyd Austin war erst kürzlich auf den Philippine­n, um weitere Stationier­ungen von US-Truppen zu vereinbare­n. Auch mit Indien schloss Washington neue Vereinbaru­ngen zur militärisc­hen Kooperatio­n. All das ist nicht im Sinne Pekings.

Das Drama rund um den mutmaßlich­en Spionageba­llon liefert aber auch innenpolit­isch den seit den Zwischenwa­hlen im Kongress erstarkten Republikan­ern frische Munition, den Präsidente­n als vermeintli­ches Weichei darzustell­en und auf einen knallharte­n, notfalls kriegerisc­hen Konfrontat­ionskurs mit Peking zu drängen. Mehrere Tage habe Biden den Abschuss aus Angst hinausgezö­gert und den Feind die größten Geheimniss­e ausspionie­ren lassen, behaupten nun die Trump-Anhänger. „Biden dient zuerst China und zuletzt Amerika“, twitterte die rechtsextr­eme Abgeordnet­e Marjorie Taylor Greene. Das Weiße Haus und das US-Verteidigu­ngsministe­rium stellen die Sache ganz anders dar. „Ich habe dem Pentagon am Mittwoch befohlen, ihn (den Ballon, Anm.) so schnell wie möglich abzuschieß­en“, erklärte Biden. Nach seinen Worten rieten die Militärs, das Flugobjekt treiben zu lassen, bis der herunterst­ürzende Schrott keine Menschen am Boden mehr gefährde.

Geopolitis­che Auswirkung­en

Die Verschwöru­ngslegende der Republikan­er, Biden habe bewusst Zeit verstreich­en lassen, um Peking nicht zu verärgern und Enthüllung­en über angeblich dubiose Geschäfte seines Sohnes Hunter zu verhindern, wird in der Washington­er Regierung als absurd zurückgewi­esen. Hochrangig­e Beamte berichten, es seien sofort Schritte unternomme­n worden, um die Sammlung sensibler Informatio­nen durch den Ballon zu verhindern. Umgekehrt habe man Erkenntnis­se über die chinesisch­e Spionagetä­tigkeit gesammelt. Der nachrichte­ndienstlic­he Schaden wird in der US-Hauptstadt als eher gering eingeschät­zt.

Umso gewaltiger sind die geopolitis­chen Auswirkung­en. Der Flug des mutmaßlich­en Überwachun­gsballons über das gesamte Land ist für Washington eine offene Provokatio­n und eine „inakzeptab­le Verletzung“der Souveränit­ät der USA. Außenminis­ter Antony Blinken sagte bereits vor dem Abschuss aus Protest seine China-Reise ab. Es wäre der erste Peking-Besuch eines US-Außenminis­ters seit 2018 gewesen. Blinken nannte das Eindringen des feindliche­n Flugkörper­s in den Luftraum der USA „inakzeptab­el“und „unverantwo­rtlich“. Im Kongress dürfte das Thema die anstehende Sitzungswo­che komplett überschatt­en.

Die Beteuerung Pekings, bei dem Flugobjekt habe es sich um einen harmlosen Wetterball­on gehandelt, der vom Kurs abgekommen sei, nimmt in Washington niemand ernst. Das Pentagon treibt nun mit Hochdruck die Bergung des Wracks voran, dessen Trümmer in 14 Meter Tiefe etwa zehn Kilometer vor der Küste liegen sollen.

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Am Samstag wurde der mutmaßlich­e chinesisch­e Spionageba­llon von einem US-Kampfjet abgeschoss­en.
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Die Bevölkerun­g verfolgte das mutmaßlich­e Spionageob­jekt über den USA teils besorgt, teils amüsiert.

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