Das schwere Kreuz der Nachgeborenen
Licht in allen Rissen: Sinnfällige Dramatisierung von Raphaela Edelbauers „Das flüssige Land“im Kasino des Burgtheaters
Zunächst sind es nichts als Stimmen, die durch die heimische Voralpenlandschaft schwirren: dazu Fetzen des Radetzky-Marsches. Das sanfteste Organ von allen ist zugleich von tiefem Weltschmerz erfüllt. Im Kasino des Wiener Burgtheaters sitzt der steirische Sänger Paul Plut am Pianino. Er sieht aus wie Garth Hudson von The Band, mit jedem Zoll ein Südstaatengentleman, und singt von einer „schönen Wöd“, die mitsamt ihren Abgründen, ihren Spalten und Löchern endgültig „dahi’“sei.
In der Burg schaut man „eini“ins Land: Betrieben wird negative Heimatkunde. In Raphaela Edelbauers Roman Das flüssige Land (2019) wird nur wenige Meter unterhalb eines Ortes namens „Groß-Einland“das Vorhandensein eines Systems von Höhlen postuliert, ein weitverzweigtes Massengrab, vollgestopft mit den Überresten verscharrter NSOpfer. Im Dorf selbst bewahren die Honoratioren ein skandalöses Stillschweigen über die Toten.
Es bleibt der Physikerin Ruth vorbehalten, Nachforschungen anzustellen. Im Kasino sind es gleich drei Schauspielerinnen, die im Namen der Tablettensüchtigen – sie sinniert im Pharmanebel über das Wesen der Zeit – reihum sehr viel Edelbauer-Prosa deklamieren. Sie gehören in stolzer Verdreifachung zu jenen „Kindern der Toten“, über die, von Elfriede Jelinek aufwärts, eine erkleckliche Zahl von Autorinnen bis heute erzählt, man denke an die begriffsscharfen Tiefenbohrungen Martin Pollacks. Edelbauer fügt dem Reigen der Nachgeborenen ihre sehr spezielle, somnambule Note hinzu. Prompt landete ihr Erzählwerk auf allen möglichen Shortlists.
Regisseurin Sara Ostertag bringt die zum Himmel schreienden Verhältnisse nun ausgerechnet nicht zum Tanzen, sondern zum Hüpfen und Springen. Zwei Trampoline (Ausstattung: Nanna Neudeck) bilden jeweils die Absprungbasis für die nachpräparierte Handlung. Suse Lichtenberger, Katharina Pichler und Michèle Rohrbach federn auf und ab in einer gottverlassenen Weltgegend, in deren Eingeweiden es – mit Rücksicht auf die Vertikale – gewaltig rumort. Nur manchmal stülpen sie sich Reifröcke über, die wie Schirmquallen von der Decke herabschweben.
Mit blutroten Nägeln
Vor allem aber gerät die entgeisterte Ruth – ihre Eltern sind unter ominösen Umständen zu Verkehrsunfallopfern geworden – in den Dunstkreis einer waschechten Gräfin. Rainer Galke gibt die weit ausladende, schwarzseidene Spinne mit blutroten Fingernägeln. In ihrem Namen, auf Geheiß einer feudalen Instanz, soll der unterminierte Boden frisch planiert, sollen die Höhlungen mit Füllmasse ausgestopft werden. Auf diesem zugeschütteten Grund treten die Lebenden ein weiteres Mal die Ermordeten mit Füßen: Sie prellen sie nicht nur um ihr Andenken, sondern stellen sie in den Dienst von Tourismus und Naherholung.
Durch Galkes schmatzendes Behagen wird die kannibalische Dimension dieser von Vertuschern angezettelten Staatsaktion spürbar. Und weil die zivilen Einrichtungen in „Groß-Einland“nicht der Rede wert sind, hält sich der Bürgermeister (Lichtenberger) ein monströses Brett vor dem Kopf, das ihn vor unbequemen Einsichten schützen soll. Der Totengräber wiederum trägt die Balken des von ihm zu zimmernden Sarges wie Christus sein Kreuz.
Mit sparsamsten Zeichen kleidet Ostertag eine Landschaft aus, die man eine mentale wird nennen müssen. Die Grenzen zwischen Skandal und Einbildung verschwimmen. Einmal richtet die „Gräfin“ein Angebot an ihre mit der Fertigung von Füllmasse beschäftigte Physikerin. Ob sie sie ins Theater begleiten wolle, es werde Macbeth gegeben? Und während Ruth höflich ablehnt, blitzen Galkes Augen: wie in abschmeckender Vorwegnahme eines unendlichen Genusses. An diesem wohlgelungenen, überaus sinnfälligen Kasino-Abend wird eine Art Totengedenken betrieben, in weiser Umgehung allzu bühnenwirksamer Entäußerungen. Weshalb man eine Täterfigur wie die der Gräfin eben nicht als blutleckende „Lady Macbeth“spielen muss.