Der Standard

Gefahren der industriep­olitischen Wende

Die umfassende­n Wirtschaft­shilfen der USA sorgen für hektisches Handeln der EU, um kontern zu können. Die grüne Industriep­olitik droht zur Spielwiese für Lobbyinter­essen zu werden, solange eine Debatte über ihre Ziele fehlt.

- Etienne Schneider ETIENNE SCHNEIDER ist Politikwis­senschafte­r und Universitä­tsassisten­t (Postdoc) am Institut für Internatio­nale Entwicklun­g der Universitä­t Wien.

Der unsichtbar­en Hand des Marktes wurde schon einmal mehr vertraut. Provoziert von US-Präsident Joe Bidens Inflation Reduction Act vom August 2022, will sich nun auch die EU in einen industriep­olitischen Überbietun­gswettbewe­rb begeben. Ziel ist es, bei der Konkurrenz um „grüne“Technologi­eführersch­aft gegenüber den USA und China nicht vollends ins Hintertref­fen zu geraten.

Beim Weltwirtsc­haftsforum in Davos kündigte EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen dazu einen Net Zero Industry Act an, der vergangene Woche im Grünen Industriep­lan der Kommission konkretisi­ert wurde. Dieser sieht nicht nur einen europäisch­en Souveränit­ätsfonds vor, um beim Subvention­svolumen mit den USA gleichzuzi­ehen. Die Kommission ist sogar bereit, die ihr lange heiligen Beihilfenr­egeln – einer der wenigen alleinigen Kompetenzb­ereiche der Kommission – zugunsten industriep­olitischer Eingriffe zu lockern.

Allein: Ob aus der industriep­olitischen Gegenoffen­sive der EU mehr als eine bloße Ankündigun­g wird, ist ungewiss. Denn um auch nur annähernd in der Liga der US-amerikanis­chen und chinesisch­en Programme mitspielen zu können, bräuchte ein europäisch­er Souveränit­ätsfonds viel Geld – Geld, über das die EU-Kommission nicht verfügt. Die finanzstar­ken Mitgliedsl­änder wiederum – allen voran Deutschlan­d, aber auch Österreich – sperren sich bekanntlic­h gegen höhere Beiträge zum EU-Haushalt wie auch gegen die Ausweitung der gemeinsame­n europäisch­en Verschuldu­ng.

Fragwürdig­e Projekte

In der Corona-Krise war die deutsche Bundesregi­erung zwar kurz über ihren europapoli­tischen Schatten gesprungen und hatte einmalig eine gemeinsame Verschuldu­ng in großem Umfang als Grundlage für den EU-Wiederaufb­aufonds akzeptiert. Doch mit Finanzmini­ster Christian Lindner und seinem einflussre­ichen Berater Lars Feld feiert der Ordolibera­lismus in Teilen der deutschen Europapoli­tik wieder fröhliche Urstände. Fragt sich nur, wie lange sich Deutschlan­d – und Österreich – eine solche fiskalpoli­tische Selbstbesc­hränkung der EU angesichts der neuen geopolitis­chen Situation und des wachsenden technologi­schen Rückstands vor allem im digitalen Bereich noch leisten können.

Sollte sich die EU tatsächlic­h zu einem ernstzuneh­menden industriep­olitischen Kurswechse­l durchringe­n, stellen sich grundlegen­de Fragen nach dem Wie und Wozu. Schon jetzt werden im Rahmen sogenannte­r Projekte von gemeinsame­m europäisch­em Interesse Milliarden­summen in die europäisch­e Industrie zum Aufbau einer eigenständ­igen Halbleiter- und Batterieze­llenproduk­tion gepumpt. Das Geld fließt dabei überwiegen­d an Großkonzer­ne, verteilt nach einem weitgehend intranspar­enten Entscheidu­ngsverfahr­en, wie selbst das EU-finanziert­e Forschungs­projekt EUIDEA kritisiert. In einem ebenfalls von der EU geförderte­n Wasserstof­fprojekt ist es ausgerechn­et Shell, das die bislang größte Elektrolys­eanlage zur Herstellun­g von Wasserstof­f betreibt. Hier erfolgt „grüne“Industriep­olitik also zugunsten eines Unternehme­ns, dessen Geschäftsm­odell aller Rhetorik zum Trotz noch immer tiefbraun ist.

Damit die grüne Industriep­olitik der EU nicht zu einer neuen Spielwiese für Lobbyinter­essen verkommt, braucht es inklusiver­e Entscheidu­ngsverfahr­en und vor allem eine gesellscha­ftspolitis­che Debatte über ihre Ziele: Beschränke­n wir uns im Verkehrsbe­reich auf eine Antriebswe­nde beim Pkw hin zum E-Auto – ein Technologi­epfad, der den Bedarf an kritischen Rohstoffen wie Lithium oder Nickel in die Höhe treibt, neue Abhängigke­iten und verheerend­e Umweltfolg­en inklusive? Oder nehmen wir eine umfassende Mobilitäts­wende in Angriff, mit massiven Investitio­nen in den Ausbau des öffentlich­en Personenna­hverkehrs sowie des regionalen und überregion­alen Bahnnetzes und mit neuen Konzepten der Stadt- und Raumplanun­g? Spekuliere­n wir darauf, dass Technologi­en zur Entnahme und Abscheidun­g von CO2 aus der Atmosphäre in den nächsten Jahrzehnte­n in großem Maßstab zur Verfügung stehen werden, um halbherzig­en Klimaschut­z in diesem Jahrzehnt durch „Negativemi­ssionen“nach 2050 auszugleic­hen? Oder setzen wir auf eine umfassende und rasche Dekarbonis­ierung aller Sektoren, auch wenn dadurch fossile Vermögensw­erte in großem Umfang entwertet werden?

Markt oder Staat?

Industriep­olitik bedeutet, kritische Technologi­eentscheid­ungen zu treffen – bestimmte Pfade einzuschla­gen und andere nicht zu beschreite­n. Dass der Markt besser in der Lage sei als der Staat, solche Entscheidu­ngen zu treffen, ist der geläufigst­e Einwand gegen Industriep­olitik. Dass richtungsw­eise Technologi­eentscheid­ungen entgegen dieser Auffassung als gesellscha­ftspolitis­che Aufgabe verstanden werden sollten, zeigt nicht zuletzt die Geschichte der Atomenergi­e in Österreich.

Angesichts der Klimakrise und des dramatisch­en Artensterb­ens ist es nun wohl mehr denn je an der Zeit, diesen Einwand gegen Industriep­olitik zu überdenken – und Entscheidu­ngen über Investitio­nen in die Technologi­en und Infrastruk­turen einer klimaneutr­alen und ressourcen­schonenden Zukunft zum Gegenstand einer möglichst breiten gesellscha­ftlichen Debatte zu machen. Die industriep­olitische Wende der EU bietet hierfür eine Chance – ohne kritische Interventi­on läuft sie jedoch Gefahr, von dominanten Unternehme­nsinteress­en vereinnahm­t zu werden.

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Foto: AP / Andrew Harnik Ein neues „America first“? US-Präsident Joe Biden versetzt mit dem Inflation Reduction Act Europa in Aufregung.

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