Der Standard

Mein Ebensee

- PHILIPPE NARVAL

1995: Die Welt feiert 50 Jahre Ende des Zweiten Weltkriegs und die Befreiung der nationalso­zialistisc­hen Konzentrat­ionsund Vernichtun­gslager. In der Schulbibli­othek stoße ich auf ein amerikanis­ches Nachrichte­nmagazin. Auf der Titelseite sind in Lumpen gekleidete, ausgemerge­lte KZHäftling­e am Tag ihrer Befreiung, dem 6. Mai 1945, zu sehen.

Ich bin 15 Jahre alt und gerade ein paar Monate als österreich­ischer Stipendiat an einer internatio­nalen Schule auf Vancouver Island. Bei der Lektüre der Reportage ergreift mich ein Gefühl der Fassungslo­sigkeit: Das Bild stammt aus Ebensee, das ganz in der Nähe meiner Heimatgeme­inde liegt. Unzählige Male war ich als Kind auf dem Weg zu den Großeltern am Straßensch­ild „zur Gedenkstät­te“vorbeigefa­hren.

Doch wem oder was dort gedacht werden sollte, wusste ich nicht. Weder zu Hause noch in der Schule hatte mir jemand vom Konzentrat­ionslager, einem Außenlager von Mauthausen, berichtet. Niemand erzählte, unter welchen Bedingunge­n Häftlinge dort Stollen für die Rüstungspr­oduktion in den Berg treiben mussten. Ich schäme mich in diesem Moment zutiefst, dass ich nach Kanada kommen musste, um das zu erfahren. Dieser Moment war prägend, und nach meinem Schulabsch­luss habe ich mich unter anderem deshalb entschiede­n, den Zivildiens­t an einer Holocaust-Gedenkstät­te zu leisten.

Ich musste wieder an diese Begebenhei­t in Kanada denken, als ich vergangene Woche aus dieser Zeitung erfuhr, dass ein ebenfalls aus der Region stammender Journalist vor ein paar Wochen aus einem Ebenseer Lokal geworfen wurde. In einer Diskussion mit dem Wirt hatte er gefordert, die Erinnerung­skultur weiter hochzuhalt­en. Nennen Sie mich naiv, aber mir wurde plötzlich klar, wie viel mehr noch zu tun sein wird, um auch kommenden Generation­en die Lehren aus Krieg, Faschismus und Shoah zu vermitteln. Die letzten Überlebend­en des Holocaust verstummen gerade. Die Rufe jener, die die Geschichte einfach ruhen lassen wollen, werden wieder lauter, „autochthon­e“Rassisten scheinen Aufwind zu bekommen, und leider macht sich auch in manchen migrantisc­hen Communitys Antisemiti­smus breit.

Wie können wir uns am besten dafür einsetzen, dass wirklich niemals vergessen wird? Wie sicherstel­len, dass Gedenken nicht zum leeren Ritual verkommt? Wie erreichen wir kommende Generation­en von Österreich­erinnen und Österreich­ern und jene, die hier eine neue Heimat finden, um ihnen zu erzählen, wohin Rassenwahn, Antisemiti­smus und Nationalis­mus führen? Wir werden weiter für eine Kultur der Erinnerung streiten müssen, nicht nur im Salzkammer­gut. Im Jahr 2024 wird die Region übrigens „Europäisch­e Kulturhaup­tstadt“.

Dem Organisati­onskomitee wünsche ich den Mut, bei allem Gegenwind auch jenen Raum zu geben, die sich unermüdlic­h für eine Auseinande­rsetzung mit dem Nationalso­zialismus engagieren, wie zum Beispiel die vielen Unterstütz­er des Vereins und Zeitgeschi­chte-Museums Ebensee. Die Geschichte meiner Heimat steht in ihrer ganzen Vielschich­tigkeit, vom KZ Ebensee über die Arisierung jüdischen Besitzes im Ausseerlan­d bis hin zur Widerstand­sbewegung im Toten Gebirge, als Spiegel für unser ganzes Land. Ein Spiegel, der nicht blind werden darf.

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