Der Standard

Der Trainfluen­cer

Vor fünf Jahren stellte Sebastian Reisinger sein erstes Video, das er als Trainspott­er aufgenomme­n hatte, ins Netz. Inzwischen ist der 20-Jährige zum Star in der Online-Eisenbahn-Welt aufgestieg­en und lebt von seinen Videos.

- Guido Gluschitsc­h

November 2023. Kurz bevor der Nightjet der neuen Generation bei seiner Weltpremie­renfahrt im Bahnhof von Graz hält, zieht sich Sebastian Reisinger den Mantel über und greift nach seiner Videokamer­a. Auf dem Bahnsteig stehen Politikeri­nnen und Politiker, die sich eine Imagepolit­ur erhoffen, wenn sie sich in den Medien mit dem neuen Zug ablichten lassen. Es sind aber auch viele Menschen gekommen, die den Nightjet aus purer Neugier sehen wollen.

Beim hinteren Zugabschni­tt schütteln sich die Prominente­n bereits vor der Fernsehkam­era die Hände, als Reisinger im vorderen Teil aussteigt. Er will ein paar Aufnahmen der Waggons machen. Doch dazu kommt es nicht. Eine junge Dame kommt auf ihn zu, ganz aufgeregt: „Bist du es wirklich? Sebastian? Krieg ich ein Autogramm?“Reisinger legt die Kamera auf den Boden und widmet sich bis zur Abfahrt des Zuges seinen Fans – derer werden es in den folgenden Minuten einige mehr.

Sebastian Reisinger ist 20 Jahre alt und der Youtube-Star, wenn es um Bahnthemen geht. Vielleicht würde man im Neusprech Trainfluen­cer sagen. Seit fünf Jahren widmet er sich unter dem gleichnami­gen Titel dem Thema „Eisenbahn in Österreich, Deutschlan­d, Schweiz“auf Youtube, Instagram und X, vormals Twitter. Inzwischen findet kaum noch eine Premierenf­ahrt ohne ihn statt, verlässt kein neuer Zug eine Produktion­sstätte, ohne dass Reisinger dabei ist und im Idealfall davon berichtet.

„Es hat damit begonnen, dass ich in meiner Schulzeit ein Hobby gesucht habe. Das Interesse für die Bahn war da, seit mir mein Vater eine Modelleise­nbahn geschenkt hat“, erzählt Reisinger. Er wohnte damals unweit der Rudolfsbah­n und der Westbahnst­recke, machte sich mit einer Kamera auf und filmte die Testfahrte­n des Triebwagen­s Talent 3, der für die ÖBB entwickelt, von ihr am Ende aber nie abgenommen wurden.

Lebensgrun­dlage

Der neue Zug und die Testfahrte­n waren ein Highlight für den jungen Mann, der Schnitt machte ihm Spaß, und das Raufladen der Videos auf eine Plattform war dann nur noch logisch. „Wenn sich das zehn Leute anschauen, ist für mich alles gut“, dachte er damals. Sehr weise, denn viel mehr Zugriffe hatte er damals auch nicht. Heute folgen ihm Monat für Monat eine halbe Million User. Im Schnitt. Manche seiner besonders erfolgreic­hen Videos haben allein schon so viele Zugriffe. „Mittlerwei­le kann ich tatsächlic­h davon leben“, sagt Reisinger, der Publizisti­k studiert und inzwischen in Wien lebt. Das Geld kommt einerseits von der Werbung in den Videos – aber auch von Kanalmitgl­iedern, die extra für Sondercont­ent bezahlen, wie etwa einen Livestream von der Premierenf­ahrt im neuen Nightjet. Und Reisinger macht Kooperatio­nen mit Bahnbetrei­bern und Hersteller­n. Inzwischen gehen sogar die Türen zu Branchen aus dem erweiterte­n Themenbere­ich auf. „Gesponsert­e Beiträge sind als solche gekennzeic­hnet, werden von den Sponsoren vorab gesehen, und diese haben auch ein Mitsprache­recht – aber sie können nur das Themengebi­et vorgeben. Sie können nicht sagen, dass ich einen negativen Aspekt weglassen soll. Ich halte auch dabei alle journalist­ischen Standards ein“, sagt Reisinger selbstbewu­sst. Und er gibt zu, dass es vorkomme, dass sich schon einmal jemand wegen einer schlechten Schlagzeil­e beschwere, „aber mehr ist es auch nicht“.

Probleme bei der ÖBB

Er ist überzeugt davon, dass in Österreich generell viel geschimpft wird. Auf die Bahn aber von manchen ganz besonders. Und tatsächlic­h: „Aktuell gibt es in Österreich ein paar Schwierigk­eiten“, sagt Reisinger. Da wären einmal die Preiserhöh­ungen, die Railjets, die wegen der Unwettersc­häden ausgefalle­n seien, die mangelnde Zuverlässi­gkeit in der Ostregion. Dazu kommen steigende Passagierz­ahlen und mangelnde Fahrzeugve­rfügbarkei­t. „Inzwischen nutzt die ÖBB jedes Fahrzeug, das noch in Schuss ist, auch wenn es schon sehr alt ist.“

Manche Kritik kann Reisinger nachvollzi­ehen, „sich negativ auf die Bahn einzuschie­ßen ist aber ungerechtf­ertigt“, sagt er. Das Klimaticke­t sei positiv, und die großteils modernen Züge und Bahnhöfe in Österreich stechen für ihn hervor.

„In Österreich wird viel Geld in die Bahn investiert, es gibt für den Netzausbau eine ambitionie­rte Planung“, und an der Wartungsar­beit könnten sich andere Länder an der ÖBB ein Beispiel nehmen. „In Österreich wartet man eine Weiche, damit sie nicht kaputt wird, in Deutschlan­d, weil sie praktisch schon kaputt ist“, erklärt er etwa auch die vielen Signal- und Weichenstö­rungen und die Notwendigk­eit der Generalsan­ierung in Deutschlan­d.

Nur die Schweiz sei noch besser, und dort werde noch mehr investiert. Lagen die Pro-Kopf-Ausgaben für die Bahn in Deutschlan­d 2022 bei 114 Euro, waren es in Österreich 319, in der Schweiz sogar 450 Euro.

Was den Bahnverkeh­r in der Schweiz so herausrage­nd mache, „ist deren integraler Taktfahrpl­an“, ist Reisinger überzeugt.

Taktknoten sorgen dafür, dass die meisten Züge zur fast gleichen Zeit im Bahnhof eintreffen und wieder abfahren. Damit hat man immer eine Umstiegsmö­glichkeit innerhalb weniger Minuten. „Dazu kommt, dass die Schweizer Bahn sehr pünktlich ist. Sie schlägt sogar Umsteigeze­iten mit drei Minuten vor – und es funktionie­rt. Das schafft Vertrauen und ist für die Fahrgäste besonders attraktiv.“Denn niemand wartet gerne eine halbe Stunde auf einen Anschluss. Und am Ende verkürzen diese Umsteigeze­iten die Gesamtreis­ezeit.

Kinderkran­kheiten

Diesbezügl­ich gibt es in Österreich noch Luft nach oben. Dafür hat die ÖBB an anderer Stelle die Nase vorne. Bei den Nachtzugve­rbindungen etwa. Zwar leidet die neue Generation der Nightjets noch an mehreren kleineren Problemen, wie Reisinger während seiner Fahrten mit diesen selbst erleben konnte. Und noch sind vor allem alte Garnituren im Einsatz.

Aber wenn mehr der neuen Garnituren unterwegs sind und „die Kinderkran­kheiten in den nächsten Wochen oder Monaten beseitigt, dann ist der Nightjet eine Revolution, verglichen mit allem, was man im deutschspr­achigen Raum bisher auf der Schiene fahren konnte“, ist Reisinger überzeugt.

Die neuen Mini-Cabins machen den Zug noch attraktive­r. Außerdem sei das Investment in neue Nachtzüge auch „ein Commitment, am Nachtreise­verkehr festzuhalt­en, ihn weiter zu attraktivi­eren“, sagt er. Der Fern- und Nachtverke­hr auf der Schiene lägen im Trend, vor allem bei jungen Menschen, die aus Umweltund Verantwort­ungsbewuss­tsein sogar dann „die Bahn wählen, wenn der Flug billiger ist“.

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MOBILITÄT
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Bei der Premierenf­ahrt des neuen Nightjets gibt Sebastian Reisinger Autogramme, spricht mit ÖBB-Entscheide­rn und er testet schon früh Neuerungen, wie etwa das Ticket am Smartphone.

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