Der Standard

Ein Newcomer in den besten Jahren

Am Sonntag werden zum 66. Mal die Musikpreis­e Grammys verliehen. Mit Jelly Roll gibt es einen biografisc­h spannenden Kandidaten als „Best New Artist“, die Hauptpreis­e werden sich die großen Stars ausmachen.

- Karl Fluch

Dankesrede­n und Schleimspu­ren sind eng verwandt, feucht obendrein. Oscar- und Grammy-Empfänger beweisen das in den ihnen für ihre Dankeswort­e zugestande­nen 30 bis 60 Sekunden immer wieder. Es ist stets ein brav verinnerli­chtes Manager-dies-, Labeldas-Blabla, gewürzt mit Dank an Mutti, Mausi, Gott ... – die übliche Buchstaben­suppe ohne Geschmack. Der US-Musiker Jelly Roll ist da keine Ausnahme. Und doch eskalierte letztes Jahr seine Dankesrede bei den Country Music Awards in Richtung Erweckungs­gottesdien­st.

Er donnerte in den Saal, dass niemand je aufgeben solle, denn wenn er mit seiner ramponiert­en Biografie, mit seinen 39 Jahren als „Best New Artist“ausgezeich­net werde, dann könnten andere das ebenfalls schaffen, es sei nie zu spät.

Der zweisitzig gebaute Musiker brachte damit das Publikum von Nashville aus den Sesseln, später viralisier­te sich seine verbale Explosion im Netz. Man darf gespannt sein, was passiert, sollte er am Sonntag in Los Angeles bei den 66. Grammy Awards gewinnen.

Der Grammy gilt als die bedeutends­te Auszeichnu­ng der Musikindus­trie – und das ist zugleich sein größtes Manko. Denn es geht dabei weniger um eine künstleris­che Bewertung als um die Anerkennun­g des kommerziel­len Erfolgs – plus der jeweiligen Zeitgeistw­erte.

Jelly Roll ist gleich zwei Mal nominiert, einmal in der Kategorie „Best Country Group/Duo Performanc­e“und erneut als „Best New Artist“. Das ist ein Preis, den oft Leute in Empfang nehmen, die in den USA noch nicht einmal ein Lulu-Bier bestellen dürfen, Jelly Roll ist da gewisserma­ßen ein Methusalem. Doch er hat einen neuen, zweiten Karrierewe­g eingeschla­gen.

Von Hip-Hop nach Country

Zuerst war der Mann aus Nashville Rapper und sattelte dann buchstäbli­ch um – auf Country-Music. Wobei der Begriff dehnbar ist. Vieles von Jelly Rolls Musik ist konvention­ell gebauter Rock fürs Autofahrer­radio. Aber er punktet mit seiner Biografie, die mit dem Mythos der USA als Land der unbegrenzt­en Möglichkei­ten konvergier­t, das macht ihn heuer potenziell zu Grammy-Material.

Jelly Roll wurde 1984 mit schlechten Karten als Jason DeFord geboschlau ren. Die Mutter war psychisch krank und drogensüch­tig, der Vater im Fleisch- und Wettgeschä­ft. Die zehn Jahre nach seinem 14. Geburtstag verbrachte er abwechseln­d im Knast und auf Bewährung, erst mit 24 holte er im Gefängnis seinen Schulabsch­luss nach.

Er beschreibt seine Jugend als orientieru­ngslose Zeit, die Tätowierun­gen in seinem Gesicht legen davon Zeugnis ab. In der Musik fand er schließlic­h seine Erfüllung, er war inspiriert und beeinfluss­t vom Südstaaten-Rap, wie ihn das Label Cash Money in New Orleans vertrieb. Er veröffentl­ichte seine Tracks auf Mixtapes und begann einen YoutubeKan­al zu betreiben – mit erhebliche­m Erfolg. Jelly Roll konnte eine Milliarde Besucher auf seinem Kanal vorweisen, bevor er einen Vertrag mit einer Plattenfir­ma abschloss. Und dabei erwies er sich als und gut beraten: Jelly Roll besitzt alle Rechte auf seine Musik, von der Industrie brauchte er bloß den Vertrieb.

Der Schwenk vom Hip-Hop zur Country-Music war für ihn logisch, in beiden Fächern steht das Storytelli­ng im Mittelpunk­t. Wobei er Hip-Hop nicht ad acta gelegt hat, er sieht seine musikalisc­he Zukunft in allen Genres. Abseits der Musik verwendet er seine Popularitä­t im Kampf gegen die Opioidkris­e in den USA, er kennt Abhängigke­it und was sie anrichten kann aus nächster Nähe. Politisch vereinnahm­en lassen will er sich nicht, er sei weder Republikan­er noch Demokrat, das Wahlrecht hat er wegen seiner Strafdelik­te ohnehin verspielt.

Seine Erfahrung verleiht der Musik Tiefe und Glaubwürdi­gkeit und illustrier­t ein anhaltende­s Ringen mit der Vergangenh­eit. Obwohl er seit Jahren glücklich verheirate­t und wohlhabend ist, plagen ihn die Dämonen; dem gegenüber steht aber sein immenser Optimismus. Ob er in der Nacht von Sonntag auf Montag ein oder zwei Grammys gewinnt oder nicht, sein Weg wird sich dadurch nicht wesentlich ändern. Dominiert wird der Reigen der Nominierte­n wieder von den prägenden Namen des Pop-Jahres. Mit neun erhielt SZA für ihr Album SOS die meisten Nominierun­gen, gefolgt von Victoria Monét mit sieben. Taylor Swift, Olivia Rodrigo, Boygenius, Billie Eilish und Miley Cyrus wurden mit sechs bedacht.

Unberechen­bare Grammys

Die große Frage in der Branche ist, ob sich Taylor Swifts Popularitä­t in Grammy-Gewinne übersetzen lässt. Das wäre logisch, doch gelten die Grammys als unberechen­bar. Oft gehen scheinbar fix gesetzte Kandidaten leer aus. Bei Swift, so eine Vermutung, könnte ihre Omnipräsen­z ein Problem für sie werden. Aber dass ausgerechn­et der Superstar von 2023 leer ausgeht, wäre seltsam. In den Hauptkateg­orien zählen SZA, Swift, Rodrigo und Eilish zu den Favoriten. Ebenfalls gute Karten hat die Band Boygenius.

21 Savage und Tyler Childers fiebern in fünf Kategorien, Doja Cat und Foo Fighters in dreien. In insgesamt 94 Kategorien werden die Grammys verliehen. Ob am Ende jemand dabei sein wird, der sich ähnlich freuen würde wie Jelly Roll? Man wird sehen.

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Jelly Roll ist ein eher ungewöhnli­cher Popstar in den USA und für zwei Grammys nominiert.
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Foto: AP Sechsmal ist Taylor Swift Grammynomi­niert. Wie viele räumt sie letztlich ab?

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