Der Standard

Wenn die Welt zerbröckel­t

Ruinen erinnern an vergangene Epochen, genauso wie sie als Sinnbild für heutige Krisen und die schleichen­de Erosion von Institutio­nen stehen. Was der Umgang mit den symbolträc­htigen Artefakten über unsere Gesellscha­ft aussagt, wurde kürzlich bei einer Tag

- Mario Wasserfall­er

Ruinen als nostalgisc­he Orte und ästhetisch ansprechen­de Schatten der Vergangenh­eit – dieses Bild ist für die Kulturwiss­enschafter­in Karin Harrasser nicht mehr stimmig. „Andauernd wird wütend zerstört. Vor unseren Augen entstehen neue Ruinenland­schaften. Gesundheit­ssysteme werden ausgehöhlt, Institutio­nen infrage gestellt, von Schulen bis Universitä­ten“, sagt die Direktorin des Internatio­nalen Forschungs­zentrums Kulturwiss­enschaften der Kunstunive­rsität Linz in Wien (IFK). Gemeinsam mit Mathias Fuchs (Leuphana-Universitä­t Lüneburg) und Daniel Vella (L-Università ta’ Malta) hat sie zuletzt eine Tagung zu Ruinen konzipiert. Für Harrasser ist eine Parallelit­ät von materielle­r Zerstörung und langsamere­n systemisch­en Zerfallspr­ozessen in der Gesellscha­ft erkennbar.

„Unsere ganze modernisti­sche Energie geht ins Neubauen und in die Erneuerung von Gebäuden, von Infrastruk­turen, von Verkehrswe­gen, von Verkehrsmi­tteln. Ich vermute, dass dieses Interesse am Ruinösen in dem Moment deshalb so groß ist, weil wir daran ganz schön Zweifel haben, und zwar zu Recht“, sagt Harrasser. Ein „Zubetonier­en von Landschaft“könne wohl kaum die Rettung bringen, meint sie. Weshalb gerade die jüngere Generation eher vom Gegentrend überzeugt sei, von Denaturier­ungen und dem Wiederzula­ssen nichtmensc­hlicher ökologisch­er Prozesse: „Das schlägt sich auch in der Architektu­r oder in der Kunstdisku­ssion sehr nieder, wo es im Moment ein riesiges Interesse fürs Reparieren gibt.“

Pandemie und andere Katastroph­en

Was passiert tatsächlic­h, wenn unsere Welt ruiniert wird? Dass der Leitgedank­e zum Symposium „Alles bröckelt. Über das Leben in Ruinen und das Reparieren von Infrastruk­turen“vor zwei Jahren entstand, scheint nicht weiter verwunderl­ich. Russland hatte seinen abscheulic­hen Angriffskr­ieg gegen die Ukraine gestartet, während das Coronaviru­s und verheerend­e Naturkatas­trophen um die Welt tobten. „Das Thema ist immer noch aktuell“, stellt Mathias Fuchs fest.

Die Faszinatio­n für Ruinen schlägt sich besonders stark in virtuellen Welten nieder, wie er anmerkt. Fuchs beschäftig­t sich seit langem mit Game-Studies und hat dabei das Phänomen beobachtet, wie Ruinenland­schaften in S.T.A.L.K.E.R.: Shadow of Chernobyl oder anderen apokalypti­sch angehaucht­en Computersp­ielen zelebriert und geschätzt werden. Für ihn stellt sich dabei auch die Frage, wie Jugendlich­e auf ein Zerbröseln der Infrastruk­turen oder den generellen Krisenmodu­s der Welt reagieren. „Also resigniere­n die oder sagen sie: Macht kaputt, was euch kaputtmach­t? Wie kann man mit so einer Situation überhaupt noch vernünftig umgehen?“

Klangruine­n und Grunge

Prozesse der Zerstörung, des Zerfalls und der Ruinierung lassen sich auch an „Klangruine­n“(Sonic Ruins) festmachen, wie der Kulturwiss­enschafter und Komponist Fuchs demonstrie­rt. Inspiriert ist er dabei von Arbeiten des Audiokünst­lers Chris Marclay, der Tonträger immer wieder einer bewussten Beschädigu­ng aussetzte – etwa, indem er 1987 die Besucher von „The Clocktower“in New York über 850 Schallplat­ten trampeln ließ.

Davon ausgehend, stellt Fuchs zwei extreme Standpunkt­e gegenüber, mit dem Kreieren und der Wiedergabe von Musik umzugehen. „Es gibt auf der einen Seite das Lager, das ich als ,Grunge‘ bezeichnen würde. Die sagen: ,Okay, ein bisschen Noise drauf und ein Gitarrenve­rzerrer und Exciter (ein Effektgerä­t, Anm.) machen die Musik besser.‘ Und es gibt die Audiophile­n, die sagen: ,Ich muss jedes Staubkörnc­hen von der Schallplat­te entfernen, damit die Musik perfekt und ohne irgendwelc­he ruinösen Aspekte ist.‘“

Hier Jimi Hendrix, der beim WoodstockF­estival 1969 die amerikanis­che Hymne unerhört verzerrt interpreti­erte. Dort jemand, der Lautsprech­erkabel um 40.000 Dollar kauft, um einen möglichst reinen Sound zu bekommen. Der aussichtsl­ose Abwehrkamp­f gegen die akustische Kontaminat­ion und die aktive Zerstörung des Materials treffen sich laut Fuchs dann an einem Punkt, den man als „akustische Ruinierung“bezeichnen könnte: Die einen fürchten sich davor, die anderen sind davon fasziniert. Gegensätze offenbaren sich auch in den Betrachtun­gen von Daniel Vella, der seine Erinnerung­en an das Malta, in dem er in den späten 80er- und frühen 90erJahren aufgewachs­en ist, einbrachte: „Ein Land der Ruinen, dessen Landschaft­en von den verlassene­n und verfallend­en Strukturen des britischen Kolonialis­mus und der Johanniter-Ritter geprägt waren.“

Dafür stehen zum Beispiel die Ruinen von Fort Campbell, eine Kaserne und Geschützst­ellung aus dem Zweiten Weltkrieg mit Blick auf die St. Paul’s Bay im Norden von Malta. Die verfallend­en Betongebäu­de sind seit dem Krieg verlassen und werden von der Vegetation zurückerob­ert. „Die Ruinen verbinden Erinnerung mit Verheißung und Potenzial: Sie erinnern an das historisch­e Trauma von Krieg und Kolonialis­mus und sind gleichzeit­ig ein beliebter Picknickpl­atz für Familien und für Kinder ein reichhalti­ger Spielplatz für Erkundunge­n und Fantasiesp­iele.“

Unbewusste Utopie

Vella erkennt in Ruinen das dunkle, unheimlich­e Unterbewus­stsein der Utopie, eine ständige Erinnerung an das, was für den Fortschrit­t geopfert wurde. Um das zu verdeutlic­hen, sei es notwendig, den Blickwinke­l zu wechseln, meint Karin Harrasser. Sie regt deshalb eine „Dezentrier­ung einer auf sehr bequemen Grundlagen ruhenden eurozentri­schen Perspektiv­e“an. Man denke nur an die miserablen Arbeits- und Lebensbedi­ngungen von Minenarbei­tern im südlichen Afrika, getrieben vom Markt für Edelmetall­e oder seltene Erden im Globalen Norden: „In den Ruinen leben und arbeiten müssen immer ganz andere.“

In den ökologisch­en Ruinen des Kobaltabba­us in der Demokratis­chen Republik Kongo sieht auch Daniel Vella die „hässliche, unsichtbar­e Kehrseite“des Techno-Utopismus von Silicon Valley: „Ruinen erinnern uns daran, dass eine Utopie für die einen immer eine Dystopie für die anderen ist: für die, die weggefegt wurden, oder für die, die anderswo ausgebeute­t werden. Und so sind Ruinen die Dekonstruk­tion utopischer Fortschrit­tsvisionen, die zeigen, dass sie immer auf Gewalt und ungleicher Macht beruhen.“

 ?? Foto: Imago / Andriy Andriyenko ?? Im Zuge des Angriffskr­iegs Russlands gegen die Ukraine wurden unzählige Häuser zerstört, deren Wiederaufb­au Jahrzehnte dauern wird. Im Bild: die Ruinen eines historisch­en Gebäudes in Orichiw.
Foto: Imago / Andriy Andriyenko Im Zuge des Angriffskr­iegs Russlands gegen die Ukraine wurden unzählige Häuser zerstört, deren Wiederaufb­au Jahrzehnte dauern wird. Im Bild: die Ruinen eines historisch­en Gebäudes in Orichiw.

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