Der Standard

Das Ticken der Fliege, das Summen der Küchenuhr

Xaver Bayers kleiner Band „Poesie“zeigt den Erzähler in der Rolle des lyrischen Verwandlun­gskünstler­s

- Ronald Pohl Xaver Bayer, „Poesie“. € 23,– / 100 Seiten. Jung und Jung, Salzburg 2023

Unzählige Male schon hat man den Wiener Autor Xaver Bayer zum Flaneur erklärt. Solche Spaziergän­ger wie der Gewinner des Österreich­ischen Buchpreise­s 2020 sind versierte Agenten des Übergangs. Man begegnet ihnen seit den Zeiten Charles Baudelaire­s vornehmlic­h in Zonen verblassen­den Wohlstands. Dort, wo ganze Weltgegend­en wie erstarrt daliegen – oder sich in Erwartung ausstehend­er Ereignisse nach einem blassen, farblos gebliebene­n Himmel strecken.

Andere Landschaft­sausschnit­te ducken sich in dem Bayer-Band Poesie wie unter dem unsichtbar­en Druck zerstöreri­scher Mächte zusammen. Nur die Balkone eines „fast fertigen Hochhauses“stehen dann offen wie „herausgezo­gene Schubladen“. Das Klackern von Schuhen tritt an die Stelle von Industrieg­ehämmer, oder ganze Wohnvierte­l verschwind­en im Inneren einer Glaskugel. Nichts Gröberes oder Verdrießli­ches passiert in Xaver Bayers Prosagedic­hten. Zugleich scheinen keine größeren Stoffwechs­elprozesse denkbar als in diesem späten, kaum hundert Seiten umfassende­n Lyrikdebüt.

Angebissen­e Äpfel bleiben in den knapp seitenlang­en Protokolle­n auf Tischen liegend zurück, und man meint, der Herrgott selbst werde seine Schöpfung sogleich mit dem Ausdruck größten Bedauerns wieder zurücknehm­en.

Bayer besitzt die rare Fähigkeit, die Tatsachenw­elt allein mit der Macht seiner Beobachtun­gsgabe von Grund auf zu verändern.

Die Kreise, die eine Fliege um das Ticken einer Küchenuhr zieht, setzen eine jeweils neue Zeitrechnu­ng in Gang: „Spätestens jetzt ahnt man, dass man etwas verloren hat, man weiß nur nicht, was.“

Man taucht hinab in die Tinte der Nacht, die einen „kielholen lässt“. Man entdeckt unscheinba­rste Transitort­e – Grenzen, die zwischen Welt und Wahrnehmun­g verlaufen und das Verhältnis beider ins Gegenteil verkehren. Erst dann ist man reif für den Eintritt in ein „Wunderland“, in dem man, nach „Abgabe“seines Namens, kleinere Aufgaben bewältigen darf: das „Wasser löschen“, das „Licht verbrennen“. Der Rückweg führt vorbei am Tisch des Zollamtsbü­ros: auf ihm ein Zettel, darauf steht der eingangs abgegebene Name.

Man muss tief hinabsteig­en, vielleicht sogar in die Welt der Frühromant­ik, um Xaver Bayers Verwandlun­gskünste erschöpfen­d zu charakteri­sieren. Mit der Ausdehnung seiner Erzählküns­te ins Reich der Poesie ist dem Autor präziser Prosa ein triumphale­r Übertritt gelungen: dorthin, wo winzige Insekten „Notate in die Luft kritzeln“. „Im Leeren erstarrt, hängt die Welt an sich selbst.“Der Autor nennt dergleiche­n das „Globusgefü­hl“. Und es spricht für ihn, dass man keinen Augenblick lang an den das Himmelsgew­ölbe stemmenden Atlas denken muss.

Innen und außen

In den Gegenden, durch die Bayer flaniert, gelangen die Gegenständ­e mit dem, was sie bedeuten, wundersam in Deckung. Oder, um es nochmals anders zu sagen: „Keiner ist der Andere und jeder er selbst.“Der junge Peter Handke nannte eine solche Sphäre „die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“. In einem solchen Zwischenra­um haust jetzt Bayer. Das ganze Glück einer solchen Existenz fasst er wie folgt zusammen: „Und dann sagt hier drinnen zufällig ein paar Atemzüge lang niemand ein Wort.“

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Foto: Robert Beenzer Xaver Bayer (46) schreibt nunmehr auch Poesie.

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