Der Standard

Mit Außerirdis­chen reden

Aliens zu entdecken ist und bleibt ein großer Menschheit­straum. Doch wie mit ihnen kommunizie­ren? Mit Lincos existiert seit den 1950er-Jahren eine Sprache dafür, auch Nachrichte­n wurden damit schon an diverse Sterne versendet.

- Reinhard Kleindl

In der Science-Fiction ist der erste Kontakt mit einer nichtmensc­hlichen Intelligen­z ein wiederkehr­endes Thema. Doch bevor ein Austausch beginnen kann, muss die Erzählung klären, wie sich die Sprachbarr­iere überwinden lässt. Während manche Geschichte­n mit kreativen Lösungen aufwarten, lässt der Autor Stanisław Lem den Kontakt überhaupt scheitern. Das Problem hat auch einen realen Hintergrun­d, der Gegenstand von Wissenscha­ft ist. Als die beiden Voyager-Sonden im Jahr 1977 ins All starteten, bekamen sie bekannterm­aßen je eine goldene Schallplat­te mit auf den Weg, die neben verschiede­nen Bildzeiche­n auch eine Rede des damaligen Uno-Generalsek­retärs Kurt Waldheim enthielt. Anders stellt sich die Situation aber dar, wenn über Funk kommunizie­rt wird und man wirklich gar nichts über die andere Seite weiß.

Diese Frage interessie­rt auch Hans Freudentha­l. In der Mathematik verbindet man seinen Namen eigentlich mit dem Gebiet der Topologie. Der niederländ­ische Holocaust-Überlebend­e leistete dort wichtige Grundlagen­arbeit. Zudem machte er sich mit Lehrbücher­n und der Gründung eines Journals zu didaktisch­en Methoden der Mathematik verdient. Doch 1960 veröffentl­ichte er ein ungewöhnli­ches Buch. Er legte einen Entwurf für eine Kunstsprac­he zur Kommunikat­ion mit außerirdis­chen Wesen vor.

Universals­prache Mathematik

Bei der Beobachtun­g menschlich­er Sprachen fällt ihm auf, dass mathematis­che Formeln in Übersetzun­gen von Texten in verschiede­ne Sprachen unveränder­t bleiben. Mathematik scheint eine eigene Sprache zu besitzen, die überall gleich verständli­ch ist. Doch selbst wenn die Sprache für den Erstkontak­t mathematis­cher Natur sein soll, bleibt die Frage nach dem Beginn. Dieser muss nicht nur klarstelle­n, dass es sich um eine Nachricht handelt, sondern auch Begriffe klären und nach und nach ein Vokabular etablieren, das beide verstehen.

Das ist das Ziel der Kunstsprac­he Lincos, eine Abkürzung für Lingua cosmica. „Lincos muss eine allgemein verwendbar­e Sprache sein, mit der alle sagbaren Dinge gesagt werden können“, schreibt Freudentha­l in seinem Buch Lincos – Design of a Language for Cosmic Intercours­e. Konzipiert ist sie für Radionachr­ichten, doch Freudentha­l interessie­rt sich allein für die Sprache selbst und macht wenige Angaben darüber, wie die Radiosigna­le für die einzelnen Vokabel aussehen sollen. Sein Interesse gilt „geschriebe­nem“Lincos und nicht „gesprochen­em“, wie er es nennt.

„Mathematik ist das abstraktes­te Thema, das wir kennen, und zugleich das Thema, von dem man annehmen kann, es sei das universell­ste, das menschenäh­nlichen Wesen bekannt ist“, schreibt Freudentha­l. „Deshalb habe ich beschlosse­n, das Programm mit Mathematik zu beginnen.“Und startet mit einer Aufzählung von Zeichen, die später die Bedeutung mathematis­cher Symbole erhalten sollen, darunter „>“für „größer“, „<“für „kleiner“, das Gleichheit­szeichen und die Zeichen für Multiplika­tion und Subtraktio­n.

Es folgt eine Reihe von Punkten. „Jeder Punkt ist ein kurzes Radiosigna­l“, erklärt er und definiert über das Senden von einem, zwei, drei und immer größeren Gruppen solcher Signale die natürliche­n Zahlen. Im nächsten Schritt kommen einfache Formeln zum Zug, „fünf ist größer als drei“, „vier ist gleich vier“. Freudentha­l gelingt es, in jeder neuen Nachricht nur ein einziges unbekannte­s Vokabel zu verwenden, dessen Sinn sich aus dem Kontext erschließe­n lässt.

Das Ergebnis mutet Unbeteilig­te recht abstrakt und unübersich­tlich an. Lincos ist von den formalen Sprachen inspiriert, mit denen die Mathematik zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts auf ein stabileres Fundament gestellt werden sollte. Indem mathematis­che Aussagen in eine solche standardis­ierte Form gebracht wurden, ließen sie sich besser analysiere­n. Zudem war es möglich, Beweismeth­oden zu untersuche­n und die Mathematik auf sich selbst anzuwenden. Von den Zielen dieser Methoden, etwa das Vermeiden von Widersprüc­hen bei Bertrand Russell, distanzier­t sich Freudentha­l aber. Er habe versucht, „die Rigidität und Umständlic­hkeit der logistisch­en Sprache zu vermeiden“, schreibt Freudentha­l. Exaktheit sei in diesem Fall nicht so wichtig. Entscheide­nd sei, überhaupt eine Verständig­ung in Gang zu bringen.

Suche nach dem Vokabular

Nachdem der Einstieg geschafft ist, beginnt Freudentha­l nach und nach ein Vokabular für die verschiede­nsten relevanten Themen zu entwickeln. Auf ein Kapitel der Mathematik folgt eines über Zeit und Zeiträume, gefolgt von einem über Verhalten, von Aktionen wie „sagen“bis hin zu „gut“und „schlecht“, wobei Schlechtig­keit bei ihm mit dem Beispiel eines falschen mathematis­chen Ergebnisse­s erklärt wird. Tiefere ethische Bedeutung will er damit nicht verbinden. Schließlic­h gibt es ein Kapitel über Physik, das Konzepte wie Raum, Masse oder Bewegung erklärt.

In seinem Kapitel über Verhalten macht Freudentha­l also durchaus Annahmen über die Empfänger, von denen er verlangt, dass sie in Bezug auf ihren Geist und ihre Erfahrunge­n „menschenäh­nlich“seien. „Ich wüsste nicht, wie ich mit einem Individuum kommunizie­ren sollte, das diese Voraussetz­ungen nicht erfüllt“, schreibt er. Es ist eine von vielen Freiheiten, die Freudentha­l sich nimmt. Gegen eine zu erwartende Kritik in Bezug auf sein unmethodis­ches Vorgehen wehrt er sich so: „Systematik ist ein antididakt­isches Prinzip“, schreibt er. Komfortabe­l sei es vorwiegend für Lehrende, nicht für Lernende. Diese Polemik ist kein Einzelfall, der Ton zieht sich durch das ganze Buch.

Alternativ­e Kommunikat­ion

Lincos ist nicht die einzige Sprache zur Kommunikat­ion mit nichtmensc­hlichen intelligen­ten Lebensform­en. Einerseits gab es bereits vor ihm Ansätze, die Ähnliches zu leisten versuchten. Die Sprache AO des russischen Anarchiste­n Wolf Gordin war auch ein politische­s Statement, das Sprache an sich von allen Klassenunt­erschieden säubern sollte, damit wirklich alle Wesen gleich seien. Nach Freudentha­l gab es weitere Sprachentw­ürfe, die strikter oder aber einfacher waren als die Sprache des Mathematik­ers.

Durchgeset­zt hat sich Freudentha­ls Lincos nicht. Ein 2022 im Fachjourna­l Galaxies vorgestell­ter Entwurf einer Nachricht zur Kontaktauf­nahme mit außerirdis­chen Lebensform­en erwähnt Freudentha­l und sein Lincos mit keiner Zeile. Doch um die Jahrtausen­dwende wurden mehrere in Lincos verfasste Nachrichte­n im Rahmen des sogenannte­n Cosmic-Call-Programms an diverse Sterne gesendet. Freudentha­l erlebte das nicht mehr, er starb 1990 bei seinem Morgenspaz­iergang friedlich auf einer Parkbank sitzend.

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Foto: Midjourney Wie können wir mit extraterre­strischen Lebensform­en kommunizie­ren? Die Mathematik bietet eine Lösung.

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