Der Standard

Das ideologisc­he Minenfeld

„Austrofasc­hismus“, „Kanzlerdik­tatur“, „Ständestaa­t“? Der Februar 1934 ist auch 90 Jahre später im Diskurs noch heißumkämp­ft. Objektiv kann man die Frage nach historisch­er Verantwort­ung gar nicht klären.

- Martin Tschiggerl MARTIN TSCHIGGERL ist Historiker am Institut für Kulturwiss­enschaften und Theaterges­chichte der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften (ÖAW).

Es gibt in der österreich­ischen Zeitgeschi­chte wenig andere Themenbere­iche, die ein solches ideologisc­hes Minenfeld darstellen wie die 1930er-Jahre. Vergleichb­ar mit der Geschichts­schreibung des US-Amerikanis­chen Bürgerkrie­gs verrät beispielsw­eise allein die (Nicht-)Verwendung bestimmter Begriffe mehr über den Autor oder die Autorin eines Textes als über die beschriebe­ne Zeitepoche selbst:

Benutzt er oder sie das Wort „Austrofasc­hismus“oder schreibt von einer „Kanzlerdik­tatur“beziehungs­weise einfach nur vom „Ständestaa­t“– vielleicht auch noch ohne die Anführungs­zeichen? Gab es im Februar 1934 in Österreich einen „Bürgerkrie­g“, „Februarkäm­pfe“ oder überhaupt nur einen „Aufstandsv­ersuch“? War Engelbert Dollfuß ein „Faschist“, ein „Diktator“, ein „Kämpfer gegen den Nationalso­zialismus“oder etwa alles zusammen?

Was für Außenstehe­nde nach bloßer Wortklaube­rei gelangweil­ter Wissenscha­fterinnen und Wissenscha­fter klingt, verweist auf eine der essenziell­en Fragen der Geschichts­wissenscha­ft: Wie viel Ideologie, wie viel Subjektivi­tät steckt in unserer Disziplin?

Gedenkjahr­e-Boom

Dies wird besonders ob der seit dem „memory boom“der späten 1980er-Jahre prominent zelebriert­en Gedenk-, Bedenk- und Erinnerung­sjahre deutlich. Nachdem der Kurier ein Gespräch zwischen dem Historiker Kurt Bauer und dem ÖVP-Altpolitik­er Andreas Khol über die Geschehnis­se in Österreich im Februar 1934 abgedruckt hat, antwortete im STANDARD der Historiker Florian Wenninger vom Institut für Historisch­e Sozialfors­chung (siehe „Worum wir streiten“, 10. 2. 2024).

Obwohl Wenninger das Gespräch zwischen Bauer und Khol nicht direkt erwähnt, wird deutlich, auf wen seine Kritik abzielt. Schritt für Schritt seziert er die zentralen Positionen der „anderen Seite“, und während im Kurier der explizite Verweis bemüht wird, es gehe um eine „neutrale“Darstellun­g der Geschichte und dass alle anderen ja parteiisch seien, verweist Wenninger auf den Stand der Forschung.

Immer die anderen

Der Kampf um Deutungsho­heit und Wahrheitsa­nspruch in der österreich­ischen Zeitgeschi­chtsforsch­ung illustrier­t eine Paradoxie, die in der Antwort auf die von mir zu Beginn hier aufgeworfe­ne Frage immer wieder zu beobachten ist: Subjektiv und ideologisc­h, das sind immer die anderen. Hier beißt sich die Katze aber in den erkenntnis­theoretisc­hen Schwanz. Denn (Geschichts-)Wissenscha­ft kann nicht „neutral“sein. Sie wird von Subjekten gemacht, die mit ihrem ganz eigenen Paket an Vorannahme­n, Erfahrunge­n und gerade auch ideologisc­hen Prädisposi­tionen in der Gegenwart Aussagen über eine nicht mehr zugänglich­e Vergangenh­eit treffen. Diese Ausgangspo­sition gilt es offenzuleg­en, „Objektivit­ät“bleibt aber ebenso unerreichb­ar wie der Horizont.

Als Wissenscha­ft müssen unsere Aussagen zwar methodisch­en und theoretisc­hen Ansprüchen genügen – wir produziere­n intersubje­ktiv nachvollzi­ehbare und überprüfba­re Fakten –, die Konstrukti­on von „Geschichte“ist aber ein subjektive­r Akt. Dies bedeutet allerdings keine Beliebigke­it und ermöglicht keinen Revisionis­mus – eine Aussage ist entweder faktisch korrekt oder nicht –, in welchen Kontext Fakten aber gesetzt werden, ist nicht neutral.

Polemik und Apologetik

Der Februar 1934 stellt immer noch einen zentralen Erinnerung­sort in der österreich­ischen Geschichte dar und ist als solcher auch 90 Jahre später noch heißumkämp­ft. Das Vermeiden eindeutige­r Klassifika­tionen – wie es der Faschismus­begriff ist – oder klarer Antworten auf mögliche Schuldfrag­en ist aber kein Zeichen von Neutralitä­t. Umso begrüßensw­erter sind daher alle Versuche, Faktizität in eine von Polemik und Apologetik geprägte Debatte zu bringen.

Die Frage nach historisch­er Verantwort­ung kann zwar nicht „objektiv“geklärt, aber doch mit offenem Visier ausverhand­elt werden – jenseits ideologisc­her und tagespolit­ischer Scheuklapp­en.

 ?? ?? Februar 1934, Wien-Heiligenst­adt. An der Fassade des Karl-Marx-Hofs sind Zerstörung­en durch Artillerie­beschuss zu sehen.
Februar 1934, Wien-Heiligenst­adt. An der Fassade des Karl-Marx-Hofs sind Zerstörung­en durch Artillerie­beschuss zu sehen.

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