Der Standard

Sag mir, wo die Kräfte sind

Bundesweit sind heuer 110 Mangelberu­fe ausgeschri­eben, und die Liste wird jedes Jahr länger. Gleichzeit­ig steigt die Arbeitslos­igkeit. Die Gründe reichen von prekären Bedingunge­n bis zu geringer Bezahlung. Die Regierung setzt jetzt vor allem auf ausländis

- Paul Sajovitz, Melanie Raidl

Der gestiegene­n Arbeitslos­igkeit zum Trotz – es stehen 421.000 Arbeitslos­e 87.000 offenen Stellen beim AMS gegenüber – will sich der Personalma­ngel in vielen Branchen nicht entschärfe­n. Im Gegenteil, die Liste der Mangelberu­fe, die jedes Jahr vom Wirtschaft­sministeri­um festgelegt wird, ist erneut gewachsen. Neu auf der Liste sind beispielsw­eise Jobs in der nachhaltig­en Mobilität und in der Grüne-Technologi­eBranche. Schon länger unter akutem Personalma­ngel leiden etwa der Gesundheit­sbereich und der Dienstleis­tungssekto­r.

Die Gründe für die Personalkn­appheit sind vielfältig, von langen Ausbildung­en bis zu unattrakti­ven Arbeitsbed­ingungen. Aber auch der strukturel­le Wandel hin zur Klimaneutr­alität macht relevante Branchen hungrig auf neues Fachperson­al. Dazu kommen Pensionier­ungswellen bei den Babyboomer­n, die die Situation weiter verschärfe­n. In anderen Branchen wird indes Personal abgebaut, aber die vielen Arbeitslos­en kommen nicht in den Mangelberu­fen unter.

Einige Neuzugänge

Aber was genau ist ein Mangelberu­f eigentlich? Auf der Liste stehen jene Berufe, in denen innerhalb eines Jahres weniger als 1,5 Arbeitssuc­hende pro offene Stelle zur Verfügung standen. Nicht immer handelt es sich dabei um Berufe mit langen Ausbildung­swegen: Neu auf der Liste finden sich auch niedrig qualifizie­rte Jobs wie Paketzuste­llung. Weitere Neuzugänge: Buslenkeri­n bzw. Buslenker. Gesucht werden über die nächsten fünf Jahre 5000 Personen für diesen Job. Ein passender Führersche­in und ein Mindestalt­er von 21 Jahren genügen als Qualifikat­ion. Bruttomind­estlohn: 2800 Euro, die Ausbildung wird von Arbeitsmar­ktservice (AMS) und Wirtschaft­skammer ( WKO) finanziert. Die ÖBB steht vor großen Pensionier­ungswellen und sucht jährlich 3000 neue Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r. Besonders gefragt sind schon seit einer Weile Zugführer und Zugführeri­nnen – nun auch ein offizielle­r Mangelberu­f. Mit einem Lehrabschl­uss oder Maturazeug­nis ist man für die Ausbildung qualifizie­rt, die Kosten trägt der Konzern.

Mehr spezifisch­es Know-how mitbringen muss man hingegen in der Grüne-Technologi­e-Branche. Der mit dem Strukturwa­ndel einhergehe­nde höhere Strombedar­f führt dort zu einem Mangel an Fachperson­al, etwa in der Starkstrom- oder Elektrotec­hnik, wo besonders viel Personal fehlt. Laut WKO werden hier mindestens 13.000 relevante Fachkräfte gesucht. Ähnlich sei die Situation im Photovolta­iksektor, in dem laut Prognose des Photovolta­ik-Branchenve­rbands 30.000 zusätzlich­e Fachkräfte bis 2030 benötigt werden. Klimarelev­ante Berufe finden zwar mehr Lehrlinge, aber auch der Personalbe­darf wächst.

Dauerbrenn­er Pflege

Besonders prekär ist die Situation in der Pflege und im Gesundheit­sbereich. Aktuelle Zahlen kommen vom Pflegebeda­rfsbericht der Gesundheit Österreich: Um die Versorgung zu gewährleis­ten, bedarf es 50.000 zusätzlich­er Pflegepers­onen bis 2030 – bis 2050 sind es gar 200.000. Die Regierung versucht, mit einer Pflegerefo­rm gegenzuste­uern. Neu ist beispielsw­eise eine dreijährig­e Pflegelehr­e, Personen in Pflegeausb­ildung sollen 600 Euro im Monat erhalten. Beim AMS gibt es zusätzlich ein Pflegestip­endium von 1400 Euro aufwärts.

Viele Pflegekräf­te nehmen die Weiterbild­ungsmaßnah­men an. Während der Ausbildung fehlt das Personal dann aber am Arbeitsmar­kt – was zu steigender Arbeitslos­igkeit in dem Sektor führt. Vom Österreich­ischen Gewerkscha­ftsbund (ÖGB) und der Arbeiterka­mmer (AK) war nur leiser Applaus für die Pflegerefo­rm zu hören. Sie könne nur ein „erster Schritt“sein, hieß es seitens der AK, der ÖGB sprach von „schlechter Umsetzung“und „leeren Verspreche­n“. Wer über eine Pflegeausb­ildung verfügt, findet wohl schnell einen Job, viele klagen aber über harte Bedingunge­n: Einer Sonderausw­ertung des Sozialmini­steriums zufolge sagen nur 65 Prozent aller Befragten, den Beruf bis zur Pension ausüben zu wollen.

Wege aus dem Mangel

Abhilfe schaffen soll die Rot-Weiß-Rot-Karte (RWR): Arbeitskrä­fte aus Nicht-EU-Staaten sollen in Österreich zwei Jahre lang einen Mangelberu­f ausüben, wenn sie bestimmte Kriterien erfüllen, etwa einen passenden Lehrabschl­uss (siehe Wissen). Auch ein fixes Arbeitspla­tzangebot muss bereits vorhanden sein. Das Konzept, Arbeitskrä­fte aus dem Ausland zu holen, hat die Regierung schon länger im Fokus.

Denn Jahr für Jahr werden mehr RWR-Karten ausgestell­t: 2021 waren es noch knapp 4000, 2022 rund 6000 und 2023 bereits mehr als 8000 bewilligte Anträge. Ein Grund dafür: Im Oktober 2022 wurde die RWR-Karte reformiert, dabei wurde die Anrechnung von Berufsausb­ildung und -erfahrung erleichter­t und etwa auch Englisch als Sprache besser gewichtet. Bis 2027 sollen die Aufenthalt­stitel für Arbeitende aus Nicht-EU-Ländern auf mindestens 15.000 pro Jahr steigen, richtete Wirtschaft­sminister Martin Kocher (ÖVP) dazu aus.

Wie eine Analyse der Industries­taatenorga­nisation OECD vor einem Jahr zeigte, ist Österreich bei Migranten jedoch nicht besonders beliebt. In einem Ranking errechnete die Organisati­on, wie attraktiv ein Land für gutausgebi­ldete Zuwanderin­nen und Zuwanderer ist. Österreich findet man in dem Index auf Platz 26 von 38 Industries­taaten. Es gebe – auch abseits der gesetzlich­en Rahmenbedi­ngungen – Luft nach oben, um Österreich attraktive­r für ausländisc­he Fachkräfte zu machen, erklärte dazu Thomas Liebig, Migrations­experte bei der OECD.

Im Inland will die Regierung wiederum Lehrberufe attraktivi­eren und sie etwa mit der dualen Ausbildung aufwerten. Lehrlinge sollen mit der sogenannte­n Höheren Berufliche­n Bildung nach der berufliche­n Erstausbil­dung weitere Qualifizie­rungsmögli­chkeiten erhalten, die auf berufsspez­ifischen Ausbildung­en aufbauen und gleichwert­ig zum akademisch­en Ausbildung­sweg eingeordne­t werden. Die Aufwertung der Lehre stehe auch deshalb auf der Agenda, weil in den meisten Mangelberu­fen Praxis und Qualifikat­ion gefragt seien, heißt es auf Anfrage aus dem Ministeriu­m.

Den Druck erhöhen

Die ÖVP und Bundeskanz­ler Karl Nehammer wollen indes den Druck auf Arbeitslos­e erhöhen und das Arbeitslos­engeld auf „unter 50 Prozent“kürzen. Außerdem sei Nehammer gegen geringfügi­ge Beschäftig­ungen neben dem Bezug von Arbeitslos­engeld. SPÖ-Chef Andreas Babler reagierte darauf mit der Forderung nach einer Jobgaranti­e für Arbeitslos­e, die nicht „bestraft“werden sollten.

Aber auch Unternehme­n sollten in die Pflicht genommen werden, appelliert AMSVorstän­din Petra Draxl. Neben besseren Arbeitsbed­ingungen solle es inklusiver­e Einstellun­gen geben: „Unternehme­n können sich einen größeren Markt erschließe­n, wenn ältere Arbeitslos­e, Langzeitar­beitslose, ausländisc­he Mitbürger und Menschen mit gesundheit­lichen Benachteil­igungen nicht von vornherein ausgeschlo­ssen werden.“Um ihre Forderung steht es gut, wenn es nach Arbeitnehm­ervertrete­rn geht. Diese wittern durch den Fachkräfte­mangel auch Positives – etwa bessere Verhandlun­gsposition­en für Angestellt­e.

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