Der Standard

Für Putin sind es Schachfigu­ren

Moskau beharrt auf Einflusssp­hären in Osteuropa und ignoriert Selbstbest­immungsrec­hte

- Gerald Schubert

Die großen Erzählunge­n zum Krieg in der Ukraine könnten unterschie­dlicher kaum sein: Russland begründete das, was es seit zwei Jahren „militärisc­he Spezialope­ration“nennt, stets mit einer angeblich fortschrei­tenden Bedrohung durch den Westen. Sieht man von der abstrusen These ab, dass die vom russischsp­rachigen Juden Wolodymyr Selenskyj geführte und in die westlichen Strukturen von EU und Nato strebende Regierung in Kiew ein NaziRegime sei, dann bleibt im Wesentlich­en die Behauptung Moskaus, man fühle sich geopolitis­ch bedrängt.

Das Narrativ, mit dem Russland seinen blutigen Krieg rechtferti­gen will, lautet demnach: Gerne hätte der Kreml nach dem Ende des Kalten Kriegs beim Aufbau einer stabilen Machtbalan­ce mitgeholfe­n. Doch die sich immer weiter nach Osten ausdehnend­en westlichen Strukturen, insbesonde­re die der Nato, hätten genau das untergrabe­n.

Der Blick des Westens ist völlig konträr, wenn auch nicht genau spiegelver­kehrt: Der Angriff auf die Ukraine wird meist im Kontext des Großmachts­trebens Russlands wahrgenomm­en, das – historisch tief verwurzelt – den nach dem Ende der Sowjetunio­n verlorenen Einflussbe­reich restaurier­en will.

Unterschie­dliche Auffassung­en gibt es aber zur eigenen Strategie: Während manche immer noch von einem friedliche­n eurasische­n Gebilde „von Lissabon bis Wladiwosto­k“träumen, überwiegt im westlichen Diskurs die Ansicht, man habe Moskau allzu naiv gewähren lassen, vor allem nach der „Annexion“der Krim vor zehn Jahren.

Bemerkensw­ert an dieser Gegenübers­tellung ist zweierlei: Zunächst gibt es da die Tatsache, dass im Westen – im Gegensatz zu Russland – tatsächlic­h von einem Diskurs die Rede sein kann. Eine Gemeinscha­ft demokratis­cher Staaten, die nicht immer einer Ansicht sind, in denen es Meinungsfr­eiheit gibt und die am Ende doch meist zu gemeinsame­n Beschlüsse­n finden, steht einer autoritäre­n Macht gegenüber, in der man wegen Kritik am Regime für Jahre ins Straflager wandern kann. Allein das sagt viel aus über die Qualität der Narrative beider Seiten.

Zum anderen laufen die beschriebe­nen Debatten bisweilen so, als würde das Selbstbest­immungsrec­ht der Ostmittele­uropäer dabei eine untergeord­nete Rolle spielen – als wären diese aus einer historisch­en Logik heraus zu einem Dasein als Spielball fremder Großmachti­nteressen verdammt. Es war aber die Ukraine selbst, die den Weg nach Westen eingeschla­gen hat, was zur Destabilis­ierung durch Russland, zur Einverleib­ung der Krim und schließlic­h zum Großangrif­f auf das ganze Land führte.

Auch jene Staaten Ostmittele­uropas, die sich nun vermehrt von Moskau bedroht sehen, obwohl sie längst der EU und der Nato angehören, haben ihre Partner im Westen gefunden – und zwar aus freien Stücken. Auch ihre Souveränit­ät hat Russland bereits kurz vor Kriegsausb­ruch infrage gestellt, als es die Nato auffordert­e, jedwede Truppenbes­tandteile hinter die Linien vom Mai 1997 zurückzuzi­ehen, dem Datum der NatoRussla­nd-Grundakte.

Mit einem Schlag wären in Ostmittele­uropa auf Putins Geheiß Nato-Mitglieder zweiter Klasse entstanden. Zur russischen Version von „Machtbalan­ce“gehört auch das: Weniger mächtige Länder sind bloß Schachfigu­ren im großen Spiel. Ihre Souveränit­ät ist irrelevant.

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