Der Standard

To Russia with Love

Die Schriftste­llerin Katharina Tiwald über ihre Sehnsucht nach Sankt Petersburg, wo sie einst Russisch studiert hat. Das Wiedersehe­n ist ungewiss.

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Vielleicht starre ich auf die Bilder in den Fotobücher­n, träume von dieser Stadt, weil ich hier jung gewesen bin. So jung, dass ich einmal – ich schwöre, nur einmal – auf einen Tisch im Zinik geklettert bin und dort getanzt habe. In Jeans und BH.

Ich sehne mich.

Seit aber sogar O., meine russische, bald offiziell österreich­ische Bekannte, die sich nie regimekrit­isch geäußert hat, seit also O. erzählt hat, sie könne ihre Eltern nur mehr in Ankara oder Jerewan treffen, es sei zu gefährlich in Russland, das sei kein Rechtsstaa­t mehr, man könne im Gefängniss­ystem verschwind­en, seitdem glaube ich – erstens – wirklich, dass ich Petersburg noch viele Jahre nicht wiedersehe­n werde. Zweitens steigert sich meine Sehnsucht, schlägt manchmal um ins beinah Kitschige. Aber auch im Kitsch gilt: Petersburg hat mit mir zu tun. Das betrifft die Bücher, die Texte, die ich schreibe; das betrifft die ukrainisch­en Kinder, für die ich in der Schule übersetze. Und meine Freunde. Ich streiche mit den Fingern über die Bücherwand, ein Regal ist vom Boden bis zur Decke voller Russen und Russinnen.

Manchmal ist Petersburg mitten in Wien. Zum Beispiel dann, wenn ich im Bauch der U4 ganz kurz den Wienfluss überquere, auf den Donaukanal zudonnere: Ein paar Synapsen querverbun­den, und das Bild der Newa, all das mächtige Petersburg­er Wasser, schiebt sich wie bei einem Diawechsel, zerkratzt, vergilbt, in mein Bewusstsei­n.

Ich war Anfang zwanzig und das Jahrtausen­d jung, als ich mich durch den Schnee dieser Stadt arbeitete, minus fünfundzwa­nzig Grad, täglich nass bis über die Knie. Es war dauerdunke­l, abgesehen von ein paar Stunden „zitronig-nördlichen Lichts“(Worte Wiktor Jerofejews). Eine Babuschka saß vor dem Schlüsselb­rett im Studentenh­eim, Putin – auch ein Petersburg­er, ein ehemaliger Hinterhofr­owdy – sah noch unverlebt aus, obwohl der zweite Tschetsche­nienkrieg in vollem Gange war. Wer über Tschetsche­nen redete, nannte sie manchmal „Schwarze“, unsere südamerika­nischen Kommiliton­en wurden manchmal auf offener Straße zur Passkontro­lle angehalten.

Buchweizen­grütze in der Mensa

Um die Uni zu betreten, musste man sich ausweisen. Das Vorlesungs­verzeichni­s existierte in genau einer Ausgabe, in Form eines handgeschr­iebenen Plans, der eine ganze Wand bedeckte. Mir schmeckte die Buchweizen­grütze in der Mensa. Die meisten russischen Kommiliton­innen schlugen verschämt die Augen nieder, wenn ich sie naiv fragte, ob sie einen Kaffee trinken gehen wollten, schließlic­h gab es auf dem Newski Prospekt allerlei funkelnde Coffeeshop­s.

Julija kam mich stattdesse­n manchmal im Studentenh­eim besuchen, wir kochten in der Gemeinscha­ftsküche. Und in einer Bar lernte ich in der Schlange vor dem einzigen Klo Wanja und die anderen kennen.

Mir fällt im heurigen Herbst der Name dieser Bar – Zinik – eine Weile lang nicht ein. Eine Woche lang. Zwei Wochen lang, während ich über diesen Text nachdenke. Ich möchte Wanja nicht deswegen anschreibe­n, der hat – er lebt seit gut eineinhalb Jahren in Israel – jetzt andere Fragen im Kopf.

Im August haben wir uns gesehen, er hat sein Zauberreic­h von Petersburg­er Altbauwohn­ung gegen ein kleines, wie aus Schachteln zusammenge­setztes Jerusaleme­r Zweckapart­ment getauscht. Tauschen müssen. In Petersburg saßen wir vor zwanzig, vor zehn, vor fünf Jahren um den riesigen, runden Tisch in seiner Küche, ein Rudel von Freunden, aßen seine eingelegte­n Pilze, tranken seinen hausgemach­ten Krenlikör (ja, das gibt es). Im Herbst 2012, es war eine von inzwischen mehreren, zu vielen Wahlnächte­n, die eine neue Amtszeit Putins einläutete­n, wurden von Wanjas Wohnung aus Teams von Wahlbeobac­hter:innen koordinier­t. Ich saß damals zwischen all der Geschäftig­keit und blätterte in der Ratgeberbr­oschüre: Wahlbeobac­hter sollten eine Taschenlam­pe mitnehmen, stand da, denn manchmal werde beim Auszählen das Licht ausgeschal­tet.

Zehn Jahre später saß ich eines Nachts am Laptop und ergoogelte Flugpreise, ich wollte zu Wanjas rundem Geburtstag nach Petersburg reisen. In der Früh marschiert­e Russland in die Ukraine ein.

Das Licht ist aus.

Die Küche in Jerusalem ist winzig, am Tisch haben mit Ach und Krach drei Leute Platz. Gut, dass das Kind erst zehn ist. Im Viertel sind viele Frauen in langen Röcken und mit bedecktem Haar unterwegs, Männer in WeißSchwar­z, das hier ist genauso Sehnsuchts­stadt, ungleich mehr noch als St. Petersburg. Ich habe es gefühlt, als ich vor dem Loch hingekniet bin, in dem das Kreuz von Jesus gesteckt haben soll. Die Stelle ist mit einem Altar überbaut, auf den ungeduldig mit der flachen Hand ein Priester schlägt, wenn jemand zu lange, zu ergriffen kniet, vor allem die orthodoxen – was? Russinnen? Ukrainerin­nen?

Wie ist es denn jetzt in Petersburg?, frage ich Wanja, der vor kurzem dort war, um die Vermietung seiner Wohnung zu regeln. Er zuckt die Achseln und meint: normal. Die Leute gehen ihrem Alltag nach.

Aber was ist das schon, Alltag?

Ich schreibe Julija an, die seit langem in Paris lebt. Sie antwortet sofort, lobt mein Russisch. Schreibt, sie sei seit zwei Jahren nicht in Petersburg gewesen. Sie fühle sich, als habe man ihr einen Körperteil abgeschnit­ten. Sie ertrage es nicht, dass das Leben dort weitergehe, als ob nichts geschehen wäre. Angst habe sie nicht. Sie ertrage es einfach nicht.

Ich habe den Namen des Zinik ergoogelt. Auf einer Webseite, die geschlosse­ne Petersburg­er Bars dokumentie­rt, lese ich, dass an der Stelle, wo wir damals tranken und Knoblauchb­rot aßen, ein Hotel steht, es gehört zur Radisson-Kette, die Fassade sieht aus, als sei man in den Achtzigern aufgewacht. Reisen? Reisewarnu­ng.

Wanja ist jetzt auch ständig am Reisen: Gruppenrei­sen leiten, das ist sein Beruf. In die USA, nach Europa, Afrika, Asien.

Ich reise. Nachts. Wie Aladin auf dem Teppich.

Träume von Petersburg

Ich träume in Zyklen von Petersburg, zuletzt stand ich in einem dunklen Korridor, über mir eine nackte Glühbirne, ich bin sicher, es stank nach Katzenpiss­e, es hat in meiner Zeit in Petersburg in solchen Korridoren immer nach Katzenpiss­e gerochen. Aber der Traum war nicht unangenehm, weil ich nicht allein war: Wanja war da, und ich bin sicher, hinter der Tür, die sich bestimmt gleich öffnen würde, hatten sich die Freunde versammelt, die seinen Küchentisc­h wie den ihren wahrnahmen.

Der Geruch ist wahrschein­lich Vergangenh­eit. Russland ist weitergero­llt. In moderne Zeiten. Ulrich, der voriges Jahr in Petersburg war, erzählt mir, der Schub sei enorm. Keine illegalen Taxis mehr, keine ausrangier­ten Westbusse, keine bettelnden Frauen wie in unserer Studienzei­t. Manches aber bleibt gleich: Wenn ich mit dem Finger über die Russenbüch­er und Bücher über Russland streiche, die sich in meinem Regal angesammel­t haben, dann kann ich allein aus einigen Buchtiteln herauslese­n, dass vor zwanzig wie vor zwei Jahren viele Leute wussten, in welche Richtung sich die Führung dieses Landes bewegt.

Es mag ein wenig Lust am Exotentum gewesen sein, die mich damals hierherget­rieben hat: Russland, da sind die schrägen Typen unterwegs, hier lebt das Entgrenzte, das Unerwartet­e, Große. Diese Erwartung ist, Hand aufs Herz, ein gesamtwest­liches Phänomen. Sogar Cannes-würdig. Im – zugegeben sehr charmanten – Film Abteil Nr. 6 reist eine finnische Studentin nach Murmansk und verbringt gezwungene­rmaßen die tagelange Reise mit einem russischen Prolo im Zugabteil. Auf Zwischenst­opps klaut er ein Auto, besorgt Salzgurken, liefert sich selbst eine Schneeball­schlacht auf den Gleisen und rutscht aus (er trägt nur Plastiksch­lapfen). Natürlich herrscht in Murmansk tiefster Winter, Schneestur­m. Gut für die Kamera. Wieder ein neues Erlebnis – letztlich ermöglicht davon, dass es sich hier um ein Kolonialre­ich handelt: Die Größe ist erobert, nicht naturgegeb­en (und Halbunterw­eltler entpuppen sich nicht immer als weichherzi­g). Hier ist der Traum vom Kollektiv immer schon mit Zwangskoll­ektivierun­g verwechsel­t worden, all das übrigens Ingredienz­ien des feucht-faschistoi­den Traums, den sämtliche europäisch­en Rechtspart­eien von Russland träumen.

Dann allerdings gibt es noch das Pathos des Guten. Ich glaube, ich wollte Russisch lernen, seit ich als Kind dauernd einen Mann mit Feuermal auf der Glatze im Fernsehen sah, von dem ich irgendwie fühlte, dass von ihm etwas Großartige­s ausging.

Mehrere Dichtermus­een

Petersburg hat mir das Große und Gute auch immer bestätigen wollen. Nebenbei: Wo sonst auf der Welt gibt es mehrere Dichtermus­een in einer Stadt – Puschkin, Dostojewsk­i, Achmatowa, Nabokow? Neben der Gewaltgesc­hichte, deren neuestes Kettenglie­d Putin geschmiede­t hat, gibt es eine nicht abreißende, starke Tradition der Arbeit am Guten, gegen alle Eigeninter­essen, gegen alle Vorstellun­gen von Schutz und Sicherheit.

Grigori, auch er ein Dauergast an Wanjas Küchentisc­h, ist voriges Jahr auf seiner Autofahrt durch Europa in Wien stehengebl­ieben. Hat in meiner Schulklass­e Fragen beantworte­t, zum Beispiel die, ob er sich als Flüchtling fühle. Was seine Lieblingsf­ußballmann­schaft sei. Er fuhr weiter nach Georgien, hat dort eine NGO aufgebaut, in der Russen, die sich dem Militärdie­nst entziehen wollen, beraten werden. Sie heißt „Idite Lesom“– wörtlich: Geht durch den Wald, frei übersetzt: Schleicht euch. An der Heckscheib­e trug sein Auto riesige Aufkleber: Freiheit für politische Gefangene! Im November ist Grigori offiziell zum „ausländisc­hen Agenten“erklärt worden, wie eine Vielzahl auffällige­r und weniger auffällige­r Kritiker des Putin’schen Regimes.

Vorige Woche habe ich im Exotenrega­l eines Supermarkt­s zwischen Tacos und Glasnudeln eine Dose entdeckt und war wieder für Minuten in Petersburg: Kondensmil­ch. Die gab es in Österreich früher nur in der Tube für die zarte Dosierung. Jetzt hat das russische Format es hierher geschafft! An den Petersburg­er Blini-Ständen war das meine Lieblingsf­üllung, klebrig-dicke Paste, jetzt steht die offene Dose in meinem Kühlschran­k, ich decke alles, was süß ist, mit Kondensmil­ch zu. Klotzen, nicht kleckern.

Manche von uns erwarten von Russland die Rettung der Welt.

22.256 Leuten hat „Idite Lesom“bisher geholfen.

 ?? ?? Katharina Tiwald, geb. 1979 in Wiener Neustadt, studierte Sprachwiss­enschaft und Russisch in Wien, Sankt Petersburg und Glasgow. Erstes Buch 2005, erstes Stück 2006. Zuletzt „Mit Elfriede durch die Hölle“(2021) und „Macbeth Melania“(2020), beide im Milena-Verlag.
Katharina Tiwald, geb. 1979 in Wiener Neustadt, studierte Sprachwiss­enschaft und Russisch in Wien, Sankt Petersburg und Glasgow. Erstes Buch 2005, erstes Stück 2006. Zuletzt „Mit Elfriede durch die Hölle“(2021) und „Macbeth Melania“(2020), beide im Milena-Verlag.
 ?? ?? Bunter Marktstand: An Sankt Petersburg knüpfen sich für die Autorin Tiwald viele, auch fotografis­che, Erinnerung­en.
Bunter Marktstand: An Sankt Petersburg knüpfen sich für die Autorin Tiwald viele, auch fotografis­che, Erinnerung­en.

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