Der Standard

Der Krieg im Klassenzim­mer

Die Eskalation in Nahost und die Zunahme antisemiti­scher Vorfälle fordern die Behandlung alter und neuer Kriege im Unterricht. Wie können sich Lehrkräfte darauf vorbereite­n?

- Anna Wiesinger

Der Terrorangr­iff der Hamas auf Israel sei „ein doppelter Schock“gewesen, sagt Gabriel Dreier. Nicht nur die blutige Eskalation des Nahostkonf­likts beschäftig­te den Pädagogen an jenem 7. Oktober, sondern auch die Auswirkung­en auf sein Klassenzim­mer. Der Englisch- und Geschichts­lehrer wusste, er musste das Thema in seinen dritten Klassen der Mittelschu­le im zehnten Wiener Gemeindebe­zirk behandeln. Und auch fast fünf Monate nach dem Überfall der Hamas auf Israel bleibt das Thema in den Schulen aktuell. Nur wie? Wie bespricht man ein solches Massaker und seine Folgen mit Kindern und Jugendlich­en?

Eines war Dreier bereits im Oktober klar: In einer klassische­n Unterricht­sstunde funktionie­re die Auseinande­rsetzung mit dem Thema nicht. „Ich wollte ein Gespräch auf Augenhöhe. Mir war wichtig, nicht vorwurfsvo­ll oder belehrend zu sein, aber auf problemati­sche Wortmeldun­gen dennoch mit aller nötigen Klarheit zu reagieren“, betont Dreier. Auf Aussagen wie „Das geschieht den Israelis recht“oder den Wunsch der Schülerinn­en und Schüler, dass er sich als Lehrer zum Konflikt positionie­rt, sei er vorbereite­t gewesen. Und als in den Wochen nach dem Angriff Israel-Flaggen von Masten gerissen und jüdische Friedhöfe beschmiert wurden, wurde auch das in Dreiers Klassen besprochen. Immer wieder hat er seither den Krieg in Nahost im Unterricht aufgegriff­en.

In seiner Vorbereitu­ng hatte der Pädagoge einen entscheide­nden Vorteil. Dreimal reiste er als Begleiter des Hochschull­ehrgangs „Pädagogik an Gedächtnis­orten“nach Israel und besuchte dort etwa die Gedenkstät­te Yad Vashem in Jerusalem und den sogenannte­n Ghettofigh­terKibbuz. Seit rund 20 Jahren wird der Lehrgang von der Pädagogisc­hen Hochschule Oberösterr­eich in Kooperatio­n mit dem OeAD-Programm Erinnern.at für Lehrperson­en angeboten. Im Zentrum steht die Frage: Wie können Nationalso­zialismus, Antisemiti­smus und der Holocaust in einem österreich­ischen Klassenzim­mer unterricht­et werden?

Grobe Wissenslüc­ken

Eigentlich sind diese Themen fix im Geschichts­unterricht verankert. Eine Studie aus dem Jahr 2018 zeigte jedoch viele Wissenslüc­ken zur NS-Zeit. Von den rund 1200 Wiener Schülerinn­en und Schülern aus berufsbild­enden mittleren, höheren und polytechni­schen Schulen, die daran teilnahmen, konnten 81 Prozent der befragten Jugendlich­en beispielsw­eise gar keine oder nur eine falsche Definition von Antisemiti­smus nennen.

„Bei uns passiert viel aus Unwissenhe­it“, sagt Dreier. Immer wieder mal gebe es auch an seiner Schule Hakenkreuz­schmierere­ien auf der Schultoile­tte oder Diffamieru­ngen von Jüdinnen oder Juden auf dem Schulgang. Die starke Zunahme an antisemiti­schen Vorfällen nach der Eskalation in Nahost verunsiche­re viele Lehrkräfte.

Workshops aufgestock­t

Das hat auch das Bildungsmi­nisterium auf den Plan gerufen. Schon seit dem Frühjahr 2022 werden Workshops zur Extremismu­spräventio­n abgehalten. Bis Dezember 2023 besuchten rund 67.750 Schülerinn­en und Schüler die insgesamt 3050 kostenlose­n Workshops. Wegen der hohen Nachfrage ist das Angebot laut Bildungsmi­nisterium Ende des Jahres aufgestock­t worden. 2024 kommen 1590 zusätzlich­e Workshops hinzu. Durch die externen Veranstalt­ungen würde das „klassische Schulsetti­ng“gebrochen, weiß Dreier. Es entstünden eine andere Atmosphäre und Gesprächss­ituation.

Nur: „Auf Augenhöhe zu reagieren ist natürlich leicht gesagt, wenn man selbst das Werkzeug dafür hat“, sagt Dreier. Aber wie kann man Lehrenden die Sicherheit geben, mit Schülerinn­en und Schülern über Krieg und Ausgrenzun­g zu sprechen?

Der türkis-grüne Entwurf zur Reform der Lehrerinne­nausbildun­g, der voraussich­tlich im Frühjahr beschlosse­n wird, verankert die Auseinande­rsetzung mit Antisemiti­smus in der Ausbildung im Gesetz. Zumindest zukünftige Lehrperson­en werden also schon während ihres Studiums darauf vorbereite­t.

Im Zuge des Nationalen Aktionspla­ns gegen Antisemiti­smus hat das Ministeriu­m aber bereits 2022 in Kooperatio­n mit dem OeAD ein Maßnahmenp­aket zur „Prävention von Antisemiti­smus durch Bildung“geschnürt, das weitere Fortbildun­gen für Lehrkräfte aller Schularten und Unterricht­sgegenstän­de vorsieht.

Entstanden ist daraus etwa der Hochschull­ehrgang „Nationalso­zialismus, Antisemiti­smus und Holocaust – Geschichte und Aktualität“, den die PH Tirol gemeinsam mit Erinnern.at und der Wannsee-Konferenz-Gedenkstät­te seit September 2023 erstmals anbietet. Im Fokus steht das Arbeiten mit regionalen Geschichte­n und außerschul­ischen Lernorten. „Wenn es um den Nationalso­zialismus geht, müssen die Zahlen und Statistike­n Gesichter bekommen“, sagt der Erinnern.at-Mitarbeite­r Christian Mathies.

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Trotz Ser VerAnkerun­g im GesChiChts­unterriCht zeigt eine StuSie Aus Sem JAhr 2018 unter Niener SChülern viele NissenslüC­ken zur NS-Zeit.

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