Der Standard

Seltene Erkrankung­en im Fokus

Rund 400.000 Menschen sind in Österreich von einer seltenen Krankheit betroffen. Doch es mangelt an Bewusstsei­n und Finanzieru­ng für die Erforschun­g und Entwicklun­g von Therapiemö­glichkeite­n für Patienten.

- Mario Wasserfall­er

Die Ausgangsla­ge lässt sich in nüchternen Zahlen auf den Punkt bringen: Nach Angaben der EU-Kommission leiden in der EU bis zu 36 Millionen Menschen an einer von mehr als 6000 bekannten seltenen Krankheite­n. Für 95 Prozent davon gibt es derzeit keine Therapie. Hinter den nackten Zahlen stehen freilich Menschen, die oft von klein auf leiden müssen. Seltene Krankheite­n sind per definition­em meist erbliche, oft chronische, mit einem schweren Verlauf einhergehe­nde komplexe Erkrankung­en. Ungefähr 80 Prozent davon haben eine genetische Ursache, 70 Prozent beginnen bereits in der Kindheit.

Zeit ist ein Kernproble­m. Schon die Diagnose für eine seltene Krankheit kann bis zu fünf Jahre dauern, hieß es bei der vom Pharmaunte­rnehmen AOP Orphan Pharmaceut­icals (AOP Health) in Kooperatio­n mit DER STANDARD organisier­ten Diskussion­sveranstal­tung vergangene Woche in Wien. Irene Lang, Spezialist­in für Lungengefä­ßerkrankun­gen an der Medizinisc­hen Universitä­t Wien, erachtet die Sensibilis­ierung von niedergela­ssenen Ärzten als entscheide­nden Faktor, um diese Zeit zu verkürzen: „Das ist ein Aufruf an die praktizier­enden Ärzte, sich mit den Expertisez­entren zu verbünden.“

Solche spezialisi­erten Zentren sind seit 2017 in Europäisch­en Referenzne­tzwerken (ERN) zusammenge­schlossen, um bestehende Expertise und Ressourcen möglichst ökonomisch zu nutzen. Zum einen gebe es in diesen Zentren Spezialist­en, die täglich mit Patienten zu tun und daher viel Erfahrung in der Diagnose und Therapie haben. Zum anderen würden sie über die notwendige diagnostis­che und therapeuti­sche Infrastruk­tur verfügen, sagte Lang.

Von der Idee zur Zulassung

Noch deutlich länger als die Diagnostik, nämlich gut ein Jahrzehnt, dauert der Weg für ein neues Arzneimitt­el von der Grundlagen­forschung über die klinische Entwicklun­g bis zur Zulassung. „Zehn Jahre Entwicklun­gszeit bedeuten, dass die Idee, die man hatte, bereits zehn Jahre alt ist, sobald ein neues Medikament zugelassen wird“, gab AOP„Wir Health-CEO Martin Steinhart zu bedenken. Eine zentrale Frage sei also, wie man die Entwicklun­gszyklen beschleuni­gen könnte, um neue Medikament­e früher für Patienten verfügbar zu machen.

„Die Forschung an seltenen Krankheite­n ist komplexer und dauert länger, hat aber vielfach die gleichen Standards wie die normale Medikament­enentwickl­ung“, hielt Steinhart fest. Erschweren­d komme die naturgemäß geringe Anzahl von Patienten für klinische Studien hinzu: „Man braucht genügend Patienten, um die Effizienz und Verträglic­hkeit zu testen. Und das ist die größte Herausford­erung, sie zu finden und zu überzeugen, an einer klinischen Studie teilzunehm­en.“

Diese Aufgabe gestalte sich auch deshalb anspruchsv­oll, weil für die Beurteilun­g einer neuen Behandlung umfangreic­he Patienteng­ruppen erforderli­ch sind.

versuchen Studiendes­igns zu entwickeln, die sich erstens auf den Patienten konzentrie­ren, zweitens auf die regulatori­schen Anforderun­gen und drittens auf die Frage, wie wir dieses Medikament später verkaufen können“, sagte Bianca Tan, Therapeuti­c Area Director Cardiology and Pulmonolog­y bei AOP Health. Gleichzeit­ig bestehe der politische Wunsch nach immer billigeren Behandlung­en und Generika, was es für die Industrie nicht leicht mache, neue Medikament­e zu entwickeln.

Bindeglied zu Patienten

Gerade bei seltenen Krankheite­n spielen Patienteno­rganisatio­nen als Bindeglied zwischen Forschung, Ärzteschaf­t sowie Patienten und Angehörige­n eine wichtige Rolle. Allerdings fühlen sich diese nicht ausreichen­d ernst genommen, konstatier­te Claas Röhl, Obmann und Gründer der Patienteno­rganisatio­n NF Kinder und Vorstandsm­itglied von Pro Rare Austria: „Wir können einen sehr paternalis­tischen Ansatz erkennen, bei dem Entscheidu­ngen für die Patienten und nicht mit ihnen getroffen werden.“

Um mit Forschungs­einrichtun­gen auf Augenhöhe zu kommunizie­ren, brauche es mehr spezifisch ausgebilde­te Patientenv­ertreter, sagte Röhl. Auf europäisch­er Ebene sind etwa im Projekt European Patients Academy on Therapeuti­c Innovation­s (EUPATI) mehrere Hundert Expertinne­n und Experten geschult worden. Röhl fordert bessere Ausbildung­smöglichke­iten auch für Österreich. Ein eigens entwickelt­er akademisch­er Kurs über drei Semester scheitere derzeit an mangelnder finanziell­er Unterstütz­ung durch die öffentlich­e Hand.

Das Problem der Unterfinan­zierung zieht sich durch, wie der Vater einer an Neurofibro­matose erkrankten Tochter betonte: „Die Zentren für seltene Krankheite­n, die vom österreich­ischen Gesundheit­sministeri­um benannt wurden, erhalten keinen einzigen Cent an Fördermitt­eln.“Schon aus volkswirts­chaftliche­n Gründen sei es angesichts 400.000 betroffene­r Menschen, die oft pflegebedü­rftig werden, kontraprod­uktiv, nicht mehr Geld zu investiere­n, sagte Röhl: „Die Regierung tritt leider auf die Bremse, wenn es um die Erforschun­g seltener Krankheite­n geht, und das muss sich so schnell wie möglich ändern.“

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Irene Lang, Partin Steinhart, Bianca Tan und Claas Röhl beschäftig­en sich auf verschiede­nen Ebenen mit seltenen Erkrankung­en (von links).
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Bianca Tan (AOP Health), Claas Röhl (NF Kinder).
Von links: Partin Steinhart (AOP Health), Irene Lang (Pedizinisc­he Universitä­t Wien), Tanja Traxler (DER STANDARD), Bianca Tan (AOP Health), Claas Röhl (NF Kinder).
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