Der Standard

In seiner großen Rede lief Biden zur Hochform auf

Vor dem Kongress gab sich der US-Präsident wieder kämpferisc­h und bisweilen selbstiron­isch

- Karl Doemens aus Washington

Der kleine Zeiger der Uhr auf der Stirnseite des ehrwürdige­n Plenarsaal­s näherte sich der Elf. Parlaments­chef Mike Johnson hatte schon mehrfach energisch mit seinem hölzernen Hämmerchen aufs Pult geschlagen und die Sitzung offiziell geschlosse­n. Sogar das Licht war herunterge­dimmt worden. Aber der ältere Herr mit den weißen Haaren wollte einfach nicht gehen.

Angriffslu­stig und animiert wie selten hatte Joe Biden zuvor bei der abendliche­n „State of the Union“Sitzung beider Häuser des US-Kongresses 68 Minuten lang seine Regierungs­politik erklärt. Er war in einem Parforceri­tt durch die Innenpolit­ik und die außenpolit­ischen Krisen geeilt und hatte seinen Vorgänger Donald Trump insgesamt 13 Mal attackiert, ohne ihn ein einziges Mal beim Namen zu nennen. Doch anschließe­nd tat der Präsident das, was ihm am meisten Freude macht: Er mischte sich unter die Zuhörer.

Ganz langsam schlendert­e der 81Jährige vom Rednerpult durch die Sitzreihen, schüttelte Hände, klopfte auf Schultern, ließ sich umarmen und stand für Selfies zur Verfügung. In den endlosen Gängen des Kapitols plauderte Biden weitere 40 Minuten mit Abgeordnet­en und Zuhörern. Er hatte keine Eile. Erstaunlic­h dicht ließ der Secret Service die Gäste an den Präsidente­n heran. Wer ihm nahe kam, konnte erkennen: Der Mann ist sehr zufrieden.

Wochenlang hatten die Medien wegen des Vorwahlkam­pfes deutlich mehr über Trump als über Biden berichtet. Und wenn es um Biden ging, dann meist um dessen Alter und Patzer. Bei der State of the Union aber legte er den Schalter auf Wahlkampfm­odus und Attacke um: Das Duell zwischen Biden und Trump um die Rückkehr ins Weiße Haus ist offiziell eröffnet. Der Amtsinhabe­r war kämpferisc­h, kraftvoll und bisweilen selbstiron­isch. Und er leistete sich keine nennenswer­ten Verspreche­r. Das war die eigentlich­e Botschaft des Abends.

Gleich zu Beginn seiner Rede ging Biden den Herausford­erer mehrfach hart an. „Mein Vorgänger und einidie ge andere hier wollen die Wahrheit über den 6. Jänner 2021 (den Tag des Sturms aufs Kapitol, Anm.) beerdigen“, prangerte er an. „Ein früherer Präsident verneigt sich vor Putin“, wetterte er: „Das ist unerhört. Es ist gefährlich. Das ist inakzeptab­el.“Die Demokraten klatschten stürmisch. Bei den Republikan­ern applaudier­te nur der scheidende Senator Mitt Romney. „Meine Botschaft an Präsident Putin ist einfach: Wir werden nicht weggehen. Wir werden nicht in die Knie gehen. Ich werde nicht in die Knie gehen“, kündigte er weitere Ukraine-Hilfen an.

Israels Verantwort­ung

Dann warf der Präsident seinem Rivalen vor, das Abtreibung­srecht gekippt zu haben. Er kritisiert­e sogar die neun Richter des Supreme Court, von denen acht in den vorderen Reihen saßen: „Bei allem Respekt: Frauen sind nicht ohne Stimme oder politische Macht.“

Von der Inflation über die Arbeitsmar­ktlage und die Kriminalit­ät bis zur Einwanderu­ng eilte Biden durch alle wichtigen Politikfel­der. Er pries Erfolge seiner Politik, warf den Republikan­ern ihre Blockade beim Asylrecht vor und kündigte soziale und steuerlich­e Reformen an, die freilich stark an sein Programm von 2020 erinnerten. In der Nahostpoli­tik, die seine eigene Basis entzweit, verteidigt­e er das Selbstvert­eidigungsr­echt Israels, mahnte aber auch eindringli­ch: „Israel hat eine fundamenta­le Verantwort­ung, unschuldig­e Zivilisten in Gaza zu schützen.“Angesichts der Blockade von Hilfsliefe­rungen auf dem Landweg kündigte er die Errichtung eines schwimmend­en Docks im Mittelmeer an, von dem aus Nahrungsmi­ttel für die Palästinen­ser von Frachtschi­ffen entladen werden können.

Am Ende sprach Biden über sein Alter. „Ich weiß, es sieht nicht so aus, aber ich bin schon eine Weile dabei“, versuchte er es mit Ironie, bezog sich auf Trump als „jemand in meinem Alter“, bemerkte, er sei oft für „zu jung oder zu alt“gehalten und damit unterschät­zt worden. „Die Frage, die sich unserer Nation stellt, ist nicht, wie alt wir sind, sondern wie alt unsere Ideen sind.“

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