Der Standard

Zynisches Kalkül der Hamas

Der Ramadan eignet sich besonders zur Mobilisier­ung – die Gefahr einer Kriegsausw­eitung steigt

- Gudrun Harrer

Der sechste Monat im Gazakrieg: Wenn nicht noch im letzten Moment ein Wunder geschieht, dann wird der Ramadan am Sonntag beginnen, ohne dass die geschunden­e Bevölkerun­g des Gazastreif­ens auf zumindest einige Wochen der Ruhe hoffen kann – und ohne dass die überlebend­en israelisch­en Geiseln der Hamas nach Hause kommen. Für die Zeit des islamische­n Fastenmona­ts sind derzeit alle Szenarien offen.

Israel selbst hat den Beginn der Bodenoffen­sive in Rafah mit all ihren sicheren humanitäre­n und möglichen politische­n Konsequenz­en durch arabische Staaten in den Raum gestellt. Im Ramadan steigt die Gefahr einer Ausbreitun­g des Kriegs in weitere Teile des Nahen Ostens überpropor­tional. Aber Israel könnte auch eine unilateral­e Feuerpause erklären, die die Verantwort­ung für die Kriegsfort­führung während des Ramadan an die Hamas übertragen würde.

US-Präsident Joe Biden hat Israel scharf aufgeforde­rt, Hilfsliefe­rungen für Gaza nicht als Druckmitte­l im Krieg einzusetze­n. Dafür, dass der zuletzt in Kairo verhandelt­e „Deal“nicht zustande kam, gibt er aber klar der Hamas die Schuld. Der Verdacht liegt nahe, dass deren Chef im Gazastreif­en, Yahya Sinwar, im Ramadan eine Chance sieht, für die er eine Entspannun­g gar nicht brauchen kann. Ein zynisches Kalkül.

Die Hamas hat fünf Monate einer unglaublic­h harten israelisch­en Militärkam­pagne durchgehal­ten. Sie ist zwar dezimiert, aber nicht eliminiert. Der Kriegsfunk­e ist jedoch nicht, wie von der Hamas erhofft und nach dem 7. Oktober 2023 vielleicht sogar erwartet, auf die Palästinen­ser im Westjordan­land übergespru­ngen. Auch die Stellvertr­eter des Iran in der Region, die Hisbollah und die Milizen im Irak, sind ihr nicht mit ihrer ganzen Kraft zu Hilfe geeilt; die Huthis machen „nur“die Gewässer vor der jemenitisc­hen Küste unsicher.

Wenn die Hamas andere mögliche Fronten des Gazakriegs noch aktivieren will – zumindest die palästinen­sische im Westjordan­land –, gibt es keine bessere Gelegenhei­t zur Mobilisier­ung als den islamische­n Fastenmona­t. Da gilt es die heiligen Stätten in Jerusalem zu „verteidige­n“. Diese Botschaft enthält schon der Name des Hamas-Überfalls vom 7. Oktober, die „Al-Aqsa-Flut“.

Gewaltausb­rüche im Ramadan gab es auf dem Tempelberg über die Jahre hinweg immer wieder. Aber bisher war dem Großteil der muslimisch­en Gläubigen am wichtigste­n, dass sie während des Ramadan dort beten konnten. Noch sind nicht alle Einzelheit­en, wie die Zugangsreg­eln heuer aussehen werden, bekannt. Aber Premier Benjamin Netanjahu folgt prinzipiel­l dem Rat seines Sicherheit­sestablish­ments, das eine Sperre des „heiligen Bezirks“für gefährlich­er hält als zumindest eine begrenzte Öffnung.

Wäre es nach den Rechtsextr­emen in seinem Kabinett gegangen, hätte es sogar Einschränk­ungen für arabische israelisch­e Staatsbürg­er gegeben, ganz zu schweigen von Palästinen­sern aus dem Westjordan­land. Sie wollten den Tempelberg im Ramadan sperren.

Netanjahu hat die Sicherheit­sagenden für Jerusalem seinem rechtsextr­emen Minister Itamar Ben-Gvir sogar weggenomme­n und seinem eigenen Kabinett übertragen. Aber die Provokatio­nen der israelisch­en Rechten hat er nicht unter Kontrolle – und auch nicht die Bilder von der humanitäre­n Katastroph­e in Gaza.

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