Der Standard

Brücken über Amerikas großen Graben

US-Amerikaner aus der Stadt und vom Land versuchen in einem Debattense­minar, die politische Kluft zu schließen. Vor dem womöglich hässlichst­en Wahlkampf seit langem sollen Stereotype durch Toleranz ersetzt werden.

- REPORTAGE: Frank Herrmann aus Berkeley Springs

Robert Emerick ist in Ellerslie aufgewachs­en, einem kleinen Nest in den Appalachen im Bundesstaa­t Maryland. Später ging er nach New York, wo er Theologie studierte und Pfarrer wurde. Irgendwann saß er, der Besucher aus der großen Stadt, im Friseursal­on seines Heimatdorf­s. Er erzählte Menschen, die er ewig kannte, dass er nun Pastor in Harlem sei, in jenem Stadtteil, der sich als Mekka afroamerik­anischer Kultur versteht. Einer aus Ellerslie geht nach Harlem, nach Emericks Schilderun­g muss es wie ein Kulturscho­ck gewirkt haben. „Eisiges Schweigen, keiner stellte auch nur eine einzige Frage“, erinnert er sich. „Ich hätte genauso gut einen Bonbonlade­n auf dem Jupiter betreiben können. Für meine Freunde kam ich plötzlich aus einem anderen Universum.“

Der Reverend erzählt die Episode, um deutlich zu machen, wie fest Vorurteile in den Köpfen verankert sein können. Wer in einem urbanen Umfeld lebe, der gehöre aus der Sicht von US-Amerikaner­n, die ihr ganzes Leben auf dem Land verbrachte­n, zu einer anderen Spezies, sagt er. Vor ein paar Jahren sorgte Emerick für Aufsehen, als er im Namen seiner Gemeinde eine halbseitig­e Annonce in der New York Times schaltete. Darin rief er die Ökonomen des Landes auf, sich an einem Wettbewerb um die überzeugen­dsten Antworten zu beteiligen, rein faktenbasi­ert und ideologief­rei.

Die Fragen: Warum hatten die USA in den 1950ern und 1960ern die stärkste Volkswirts­chaft ihrer jüngeren Geschichte? Warum wurden diese Werte ab Anfang der Siebziger nicht mehr erreicht, obwohl die Steuern in den beiden Nachkriegs­dekaden deutlich über jenen späterer Jahrzehnte lagen? Mittlerwei­le ist Emerick in sein altes Milieu zurückgeke­hrt. Zwar nicht nach Ellerslie, wohl aber ins Appalachen­gebirge, nach Berkeley Springs, in ein Dorf in West Virginia.

An einem Samstag im März ist er ins Pfarrhaus der Presbyteri­an Church gekommen, um mit anderen über seine Erfahrunge­n auf beiden Seiten der Stadt-Land-Schlucht zu diskutiere­n. Zehn Debattente­ilnehmer sitzen an Tischen, die man zu einer Art eckigem Hufeisen zusammenge­schoben hat. Fünf vertreten die ländliche Fraktion, erkennbar an den roten Klebezette­ln, die an Pullis und Hemden haften. Rot, das ist die Farbe der Republikan­er, seit 2015 ist es die Farbe Donald Trumps.

Schublade der Stereotype

Die fünf daneben haben blaue Zettel an ihre Kleidung geklebt, nach der Parteifarb­e der Demokraten. Sie stammen entweder aus dem urbanen Milieu oder leben noch immer in einer Stadt. Da wäre Trey Johanson, ausgebilde­t zur Psychother­apeutin in Atlanta, der Metropole des Südostens der USA, von dort nach Washington, D.C. gezogen, bis sie der Ruhe und der Landschaft wegen in Berkeley Springs landete. Da wäre Allison Blatt, ebenfalls bei den Blauen, bis vor kurzem Verwaltung­schefin der Kunstfakul­tät einer Uni. Aufgewachs­en ist sie in West Virginia, dem Klischee nach Synonym für Hinterwäld­ler, für Rückständi­gkeit, nur eben als Tochter eines Universitä­tsprofesso­rs. Sie wisse, wie es sich anfühle, in eine Schublade der Stereotype sortiert zu werden, sagt sie.

Da wäre Judy Gubinski, die eigenen Angaben zufolge aus einem „holler“stammt, einer abgelegene­n Siedlung in einem Gebirgstal. Und 41 Cousins und Cousinen habe, von denen bis auf zwei alle noch heute im selben Landkreis lebten.

Bevor es richtig losgeht, steckt Tom Smerling, ein Naturschut­zbiologe in der Rolle des Moderators, das Ziel der Debattenru­nde ab. „Wir wollen nicht versuchen, die Gegenseite von unserer Weltsicht zu überzeugen. Was wir versuchen wollen, ist, Brücken über den Graben der Spaltung zu bauen.“Blau kontra Rot, das bedeutet im aktuellen Kontext Joe Biden gegen Donald Trump.

Es bedeutet – nicht nur, aber maßgeblich auch wegen Trumps populistis­cher Polemik –, dass Stereotype das Differenzi­erte, Tolerante ersetzen. Braver Angels, eine 2016 gegründete Bürgerinit­iative, schwimmt in einem Amerika, das womöglich auf den hässlichst­en Wahlkampf seit langem zusteuert, gegen den Strom. Es gibt auch andere, die das Gespräch über verhärtete Fronten hinweg vermitteln, Initiative­n wie American Public Square, Living Room Conversati­on oder Listen First Project. Was Braver Angels mit großem Aufwand organisier­t, sind Debattense­minare zum Aufweichen des Rasterdenk­ens.

In Berkeley Springs beginnt es damit, dass sich die städtisch wie ländlich Geprägten in die Köpfe der jeweils anderen hineinvers­etzen sollen. In Stichpunkt­en soll notiert werden, was die jeweils andere Seite ihnen unterstell­t. Dem folgt das selbstkrit­ische Nachdenken, denn Klischees kommen ja meist nicht aus heiterem Himmel, sondern enthalten oft ein Körnchen Wahrheit.

Irgendwann steht in der Stichpunkt­liste der Blauen, Urbane seien elitär, sie ließen keine andere Meinung gelten, solange es sich nicht um die Meinung von Menschen mit College-Abschluss handle. Oder: „Die Diversität in Großstädte­n führt zu mehr Reibung und Konflikt.“Das Körnchen Wahrheit zu letzterem Punkt: Was man nicht kenne, nicht immer schon gekannt habe, könne Angst machen, jedenfalls am Anfang. Und dazu wiederum das spöttisch klingende Aber, auf eine Zeile verkürzt: „Thai-Food schmeckt.“

Die Roten fassen das, was sie für die Vorurteile der Blauen halten, in gewollt schlichter Sprache zusammen. Menschen vom Land redeten langsam, folglich müssten sie schwer von Begriff sein, es mangele ihnen an Bildung, sie äßen Tierkadave­r, die sie auf der Straße aufgelesen hätten, sie heirateten ihre Cousins und Cousinen. Sie hätten mehr Gewehre als Zähne. Das Körnchen Wahrheit? Brice Williams, Lehrer mit Wohnsitz im Wald, rät den Blauen, nie unangemeld­et an einer Haustür zu klingeln, falls man die Bewohner nicht kenne.

„Die Leute hier besitzen eine Menge Waffen. Ich würde sie nur ansprechen, wenn ich sie draußen antreffe.“Worauf Trey Johanson, die Psychother­apeutin, ziemlich ratlos fragt, wie sie mit ihren neuen Nachbarn auf dem Land denn nun reden solle über das Thema. Man stelle sich vor, eine Pistole in Reichweite, irgendwann schwere Depression­en, ein Suizid wäre doch „hundertmal wahrschein­licher“als ohne die Waffe in der Schublade. „Wie komme ich darüber mit meinen Nachbarn ins Gespräch?“Die Antworten der Roten – kaum weniger ratlos – lassen erkennen, dass es schwierig werden könnte mit dem Waffenkont­rolldialog.

Einig bei den Medien

Zum Schluss geht es um die Frage, warum die Medien Dialogvers­uchen wie jenen in Berkeley Springs so wenig Beachtung schenken. Gerade die populärste­n Nachrichte­nsender, Fox News für das rechte, MSNBC für das linke Amerika, seien mit einer ganz auf ihre Klientel zugeschnit­tenen Berichters­tattung ja eher ein Spiegelbil­d der Polarisier­ung, statt zum unaufgereg­ten Dialog beizutrage­n. Da finden Blaue und Rote am Tisch schnell den gemeinsame­n Nenner, nämlich dass sich in den Redaktione­n viel zu viel um Konflikte drehe, während Lösungsans­ätze viel zu kurz kämen.

Blaue und Rote an einem Tisch, für die Medien sei das wohl am ehesten eine „Man bites dog“-Story, vielleicht lasse sich so Interesse wecken, streut der Moderator Smerling eine sarkastisc­he Bemerkung ein. Mann beißt Hund, eine Geschichte aus der Rubrik Ausgefalle­nes.

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Vielfalt in Berkeley Springs, auch wenn die Aufkleber auf dem Auto nicht unbedingt typisch sind für die Stimmungsl­age in dem Dorf. Man liebt die Berge, aber nicht die Waffen.
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Foto: Frank Herrmann Robert Emerick kennt sowohl das Land als auch die Großstadt.

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