Der Standard

Schöne neue Billigwelt

- Regina Bruckner, Bettina Pfluger

Inflation und Teuerung sorgen dafür, dass Konsumente­n verstärkt auf ihre Kosten achten. Das spielt Billiganbi­etern wie Temu oder Shein in die Karten. Sie überfluten Europa mit Billigware, die oft aber Sicherheit­smängel aufweist. Zollgrenze­n werden umgangen, Produktsta­ndards ebenfalls.

Endlich ist es da, das orange Packerl von Temu. Rund 14 Tage dauert die Lieferfris­t. Wobei es sich hier nicht um Pakete aus Karton handelt. Die Temu-Ware kommt in Plastiksac­kerln – mit viel Tixo verklebt. Die Produkte sind zusammenge­presst, aber alle gut verpackt und in diesem Fall auch bruchsiche­r transportf­ähig.

Seit Monaten macht die chinesisch­e Shopping-App massiv Werbung in Europa. Hierzuland­e ging sie vor gut einem Jahr an den Start. Ein Damenspitz­enbody für 5,59 Euro, Katzenvorh­änge für 5,51 Euro, vier Paar Ohrstecker für 2,54 Euro, ein Hängesesse­l für 34,79 Euro oder ein handlicher Hochleistu­ngsstaubsa­uger für 15,83 Euro. All das – und noch viel mehr – kann auf Temu geshoppt werden. Temu ist aber nicht der einzige Anbieter aus China, der den Markt durcheinan­derwirbelt. Auch Shein oder Aliexpress locken Kunden – mit konkurrenz­los günstigen Preisen. Dem Präsenzhan­del entgehen damit mittlerwei­le Milliarden.

Egal, wen man fragt, ob Logistiker, Handelsfac­hleute oder die Konkurrenz, sie alle beobachten es: Der europäisch­e Markt wird mit Billigware regelrecht geflutet. Der Erste, der das bestätigen kann, ist Sebastian Kummer. Der oberste Logistiker der WU Wien kennt sich mit Warenström­en aus. Temu und Shein würden so viele Waren durch die Welt schicken, dass das für Engpässe im weltweiten Lufttransp­ort sorgt und die Frachtrate­n in die Höhe treibt, sagt der WU-Professor.

Ruft man Harald Gutschi an, referiert dieser eine Reihe an Zahlen, welche die schiere Menge illustrier­en. 2021 kamen zwei Milliarden Pakete aus China in die EU, heuer würden es mehr als fünf Milliarden werden. Ein Drittel des weltweiten Paketvolum­ens umfassen die Lieferunge­n aus China. Die Frachtrate­n hätten sich verdoppelt. 100 dickbauchi­ge, 50 Tonnen schwere Transportf­lieger verlassen China mittlerwei­le gen Europa und USA – pro Tag. 200 Flieger werden es wohl heuer werden. „Es ist ein Tsunami“, sagt Gutschi. Der Chef der Unito Österreich, einer der größten Onlinehänd­ler des Landes, beobachtet die Konkurrenz aus China mit Argusaugen.

Nicht alles in Butter

Alleine ist er damit nicht. Auch Konsumente­nschützern stößt die Ware aus China süßsauer auf. Die Produkte aus der Billigwelt entspreche­n nicht immer den Bildern auf der Homepage – und oft auch nicht den europäisch­en Standards. Studien belegen, dass bis zu 60 Prozent der Importe von chinesisch­en Onlinehänd­lern gegen EU-Regeln verstoßen. Besonders oft betroffen ist Spielzeug. Der europäisch­e Spielwaren­verband Toy Industries of Europe (TIE) hat zu Testzwecke­n 19 Spielwaren auf Temu bestellt.

Die ernüchtern­de Bilanz: Ob Babyrassel, Quietschen­te oder Kuschelbär – nichts davon entsprach den EU-Vorschrift­en voll und ganz. 18 Produkte wiesen sogar Sicherheit­srisiken wie scharfe Kanten auf. Ein Schleimspi­elzeug enthielt eine Chemikalie, deren Grenzwert um das Elffache überschrit­ten worden war. Der Haken an der Billigware: Sie wird von Privatpers­onen per Direktimpo­rt gekauft. Es gibt damit keine zwischenge­schalteten Händler, die bei Produktmän­geln in die Pflicht genommen werden können. Kein Wunder, dass die Spielwaren­branche in Europa Alarm schlägt. Aber auch sie bezieht – wie andere Händler auch – ihre Ware aus Fernost. Teilweise kommen bis zu 80 Prozent der Ware aus Asien.

Der deutsche Wirtschaft­swissensch­after Gerrit Heinemann kennt das Dilemma: Viele Produkte kommen aus China, egal ob sie der Konsument bei Amazon, Temu, einem anderen Onlinehänd­ler oder im lokalen Geschäft erwirbt. „Es ist gar nicht so unwahrsche­inlich, dass sie von denselben Hersteller­n in China kommen. Es gibt eine große Schnittmen­ge im Non-Food-Bereich“, sagt Heinemann.

Der E-Commerce-Experte weiß auch, warum die Chinesen so billig anbieten können. Temu ist ein reiner Marktplatz, der ausschließ­lich digitale Dienste anbietet. Die Abwicklung übernehmen die Hersteller. Schneiden üblicherwe­ise Importeure, Großhändle­r und Händler mit, fällt dies bei Temu und Co weg. Das Geschäft rechnet sich. Hinter Temu steckt die hochprofit­able Pinduoduo (PDD) Holding, die Huang Zheng, auch bekannt als Colin Huang, 2015 gründete. PDD notiert an der US-Technologi­ebörse Nasdaq, die Aktie legte in den vergangene­n fünf Jahren um 400 Prozent zu. PDD verbuchte 2023 weltweit einen Umsatz von 37 Milliarden Dollar und einen Jahresüber­schuss von acht Milliarden Dollar. Analysten schätzen, dass die Tochter Temu – die Shopping-App führte 2023 die Jahreschar­ts auf dem iPhone an – im Vorjahr rund 16 Milliarden Dollar Umsatz gemacht hat. Das ist zwar nur rund ein Viertel dessen, was Amazon erwirtscha­ftete, Wirtschaft­sforscher Heinemann traut Temu aber zu, mit seinem völlig neuen Geschäftsm­odell ein AmazonKill­er zu sein. So wie einst Amazon stationäre Händler in Angst und Schrecken versetzte, sind heute die Chinesen mit ihrem digitalen Know-how auf der Überholspu­r.

Temus Kerngeschä­ft sind nicht die Gebühren für den Produktver­kauf, verdient wird mit Vermarktun­gsservices. Auf Tiktok oder Google kommt man kaum an der grell blinkenden Temu-Werbung vorbei. „Die Hersteller geben Milliarden auf Facebook und Meta für Werbungsko­sten aus. Diese sind deutlich gestiegen“, erklärt Unito-Chef Gutschi die Folgen.

Von Nachhaltig­keit keine Spur

Gutschi hat viele Argumente, die auf der Negativsei­te zu verbuchen sind. Aus Nachhaltig­keitssicht sei ein Einkauf auf den ChinaSeite­n „eine Katastroph­e“. Die gesamte Ware würde geflogen. „Das Kilo kostet sechs Euro“, sagt Gutschi. Billig auch deshalb, weil keine Kerosinste­uer anfalle. Gar nicht zu reden von den Mängeln oder von gefälschte­n Gütesiegel­n. Zwei Drittel der Pakete würden zudem falsch verzollt. Der EU entgingen so rund 50 Milliarden Euro – mit einem einfachen Trick: Liegt der Bestellwer­t unter 150 Euro, fallen keine Zollgebühr­en an. Temu teilt größere Bestellung­en daher auf mehrere Pakete auf – damit der Warenwert pro Paket unter der Zollgrenze bleibt. Das regt Gutschi besonders auf. Er fordert wie andere Händler und Verbände die Abschaffun­g der 150-Euro-Zollfreigr­enze und ortet „unfassbare Benachteil­igung“.

Europas Anbieter zahlen Zoll, Mehrwertst­euer und haben sich an Verpackung­s- sowie Datenschut­zregeln zu halten. Die Konkurrenz aus China komme billig – im wahrsten Sinne des Wortes – davon. Die Zollbehörd­en seien ob des Paketvolum­ens heillos unterausge­stattet. Die EU will 2028 die Warenflüss­e erfassen. „Viel zu spät“, sagt Gutschi. Er wehre sich nicht gegen Wettbewerb, aber es brauche faire Spielregel­n, an die sich alle halten müssten. Apropos Spielregel­n: Sie bedeuten wohl nicht allen gleich viel, glaubt Wirtschaft­sforscher Heinemann: „Den Kunden ist es im Wesentlich­en egal, ob ein Wasserkoch­er den EU-Sicherheit­sstandards entspricht oder nicht. Das ist den Regulierun­gsbehörden wichtig.“

Wenig Beschwerde­n

Konsumente­nschutzreg­eln gelten auch für Billiganbi­eter. Dass sie durchgeset­zt werden können, ist aber nicht gesagt. Bei Jakob Zarari vom Europäisch­en Verbrauche­rzentrum (EVZ) schlagen kaum Beschwerde­n von Temu-Kunden auf. Die Hersteller würden wohl von Temu dabei unterstütz­t, kundenfreu­ndlich zu agieren und Ware umstandslo­s zurückzune­hmen, mutmaßt Zarari. Der Einkauf kann dennoch unerfreuli­ch enden.

Probleme gebe es mit dem zwischenge­schalteten Zahlungsdi­enstleiste­r Klarna. Komme Ware nicht an oder werde sie retournier­t, beharre Klarna auf Zahlung. Zu Unrecht. „Da kann es schon passieren, dass das Inkassobür­o anrückt.“Zarari empfiehlt, vorher zu prüfen, bei wem man wirklich kaufe. Auch etwas Hausversta­nd schade nicht: Rezensione­n googeln, Watchlist der InternetOm­budsstelle durchforst­en. Fällt ein OnlineHänd­ler ungut auf, landet er auf einer schwarzen Liste. Was der Konsumente­nschützer noch empfiehlt, ist die Frage nach dem Preis. Bei einer Smartwatch um 15 Euro sollten die Alarmglock­en schrillen.

Kampf mit harten Bandagen

Der Druck ist aber auch innerhalb der Billiganbi­eter groß. Temu zieht gegen den Konkurrent­en Shein in den USA vor Gericht. Der Vorwurf: gravierend­es wettbewerb­swidriges Verhalten. Das teilte Temu zum Jahreswech­sel mit. Temu behauptet, dass Shein tausende Händler zu exklusiven Verträgen mit Shein zwinge und Temu-Händler bedroht haben soll. Gestritten wird auch um Urheberrec­hte.

Laut der Klageschri­ft sollen chinesisch­e Lieferante­n, deren Produkte ursprüngli­ch über beide Plattforme­n vertrieben wurden, in die Büros von Shein in Guangzhou gerufen und gezwungen worden sein, Telefonpas­swörter und Transaktio­nsdaten im Zusammenha­ng mit Temu herauszuge­ben.

Es ist also nur eine vermeintli­ch schöne neue Shoppingwe­lt. Doch die orangen Sackerln – sie kommen. Noch überwiegt die Freude über billige Lampen, T-Shirts und Co.

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