Der Standard

Der ewige Präsident

Seit gut zweieinhal­b Jahrzehnte­n kennen die Russinnen und Russen keinen anderen Präsidente­n als Wladimir Wladimirow­itsch Putin. Nur einmal musste er aus verfassung­srechtlich­en Gründen pro forma eine kurze Pause einlegen. Nun könnte er bis 2036 an der Staa

- ANALYSE: Jo Angerer aus Moskau

Es war ein historisch­er Silvestera­bend, der 31. Dezember 1999. Russlands Präsident Boris Jelzin, krank und trunksücht­ig, trat zurück und benannte seinen Nachfolger. „Wir haben die Rede von Jelzin, Gott sei Dank die letzte, live miterlebt. Danach haben wir bis spät in die Nacht hinein gefeiert“, erinnert sich eine Zeitzeugin im Gespräch mit dem STANDARD. Den neuen Machthaber allerdings kannte niemand in der Partyrunde: Er hieß Wladimir Wladimirow­itsch Putin, er war damals Regierungs­chef unter Jelzin.

Seitdem ist Putin an der Macht – bis heute. Eine ganze Generation in Russland kennt nur ihn als Präsidente­n, mit einer Unterbrech­ung: Von 2008 bis 2012, als Putin aus Verfassung­sgründen nicht antreten durfte, war Dmitri Medwedew sein Statthalte­r im Amt.

Die Präsidents­chaftswahl in Russland, die am Freitag begann, wird der heute 71-jährige Putin mit geschätzt über 80 Prozent der Stimmen gewinnen: so viel wie noch nie in zuvor seit seinem Amtsantrit­t als russischer Staatschef vor fast einem Vierteljah­rhundert. Ernsthafte Gegenkandi­daten gibt es keine.

Von der Zentralen Wahlkommis­sion wurden die erklärten Kriegsgegn­er Jekaterina Dunzowa und Boris Nadeschdin schon im Vorfeld der Wahl „aus formalen Gründen“abgelehnt. Putins drei Mitbewerbe­r – der Kommunist Nikolai Charitonow, Leonid Sluzki von der nationalis­tischen Partei LDPR und der Liberale Wladislaw Dawankow – sind auf Kreml-Linie und völlig chancenlos. Jedem von ihnen prognostiz­ieren die staatliche­n Meinungsfo­rscher fünf bis sechs Prozent der Stimmen.

Karriere via KGB

Geboren wurde der ewige Präsident Putin am 7. Oktober 1952 in Sankt Petersburg, das damals noch Leningrad hieß. Er wuchs in ärmlichen Verhältnis­sen auf, studierte Jus und arbeitete ab 1975 für den damaligen sowjetisch­en Geheimdien­st KGB. Seit seiner Zeit als Geheimdien­stler in der ehemaligen DDR spricht er perfekt Deutsch. Nach dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n kehrte Putin nach Russland zurück und wurde stellvertr­etender Bürgermeis­ter in Sankt Petersburg. Ab 1997 war er im Kreml tätig, war Chef des Inlandsgeh­eimdienste­s FSB und schließlic­h Premier.

Putins wohl größtes innenpolit­isches Verdienst als Präsident war die Befriedung des Landes nach den chaotische­n 1990er-Jahren. Russland taumelte durch eine riesige Wirtschaft­skrise, der Rubel war nichts mehr wert, die Menschen ernährten sich von dem, was sie auf der Datscha anbauten. Wenige wurden unermessli­ch reich, viele unermessli­ch arm. Und die Oligarchen kämpften um die Macht. Bombenatte­ntate, politische Morde waren an der Tagesordnu­ng.

Putin, früher einmal „Europäer“

Putin schloss Frieden mit den Oligarchen. Die soziale Ungleichhe­it aber bestand weiter – bis heute. Doch die anhaltend hohen Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäf­t brachten Wohlstand für viele. Bei den Parlaments­wahlen von 2003 errang die Kreml-Partei Einiges Russland einen erdrutscha­rtigen Sieg.

Außenpolit­isch gab sich Putin zunächst als Europäer. Im September 2001 sprach er in einer historisch­en Rede vor dem Deutschen Bundestag von der „Einheit der europäisch­en Kultur“. Europa und Russland sollten einen eigenen Machtblock bilden – gegen die Amerikaner, so Putin in seiner Rede, die er auf Deutsch hielt. „Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehunge­n Europas zu den Vereinigte­n Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbststän­diger Mittelpunk­t der Weltpoliti­k langfristi­g nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkei­ten mit Russlands menschlich­en, territoria­len und Naturresso­urcen sowie mit den Wirtschaft­s-, Kulturund Verteidigu­ngspotenzi­alen Russlands vereinigen wird.“

Von Anfang an war Wladimir Putin aber ein Machtpolit­iker. Den Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n empfand er als Demütigung, die NatoOsterw­eiterung als Bedrohung. Unter ihm an der Macht führte Russland viele Kriege, darunter gegen Rebellen in Tschetsche­nien, aber auch gegen Georgien – als er Regierungs­chef und Medwedew pro forma Präsident war – in Syrien und zuletzt gegen die Ukraine.

Die zunehmende West-Orientieru­ng der Ukraine propagiert­e Putin als „Bedrohung durch die Nato“und marschiert­e im Februar 2022 in dem Nachbarlan­d ein. Mit seinem „Kampf gegen den äußeren Feind“hat er viele Russen und Russinnen auf seine Seite gezogen. Der Kreml-Chef kam als Erbauer eines neuen starken Russlands, das bisweilen mit seinen Atomwaffen droht, bei den Menschen im Land an. Und selbst westliche Experten räumen ein, dass Moskau dem Druck der Sanktionen der EU, der USA und anderer Staaten bisher besser standgehal­ten hat als von vielen erwartet.

Im Land selbst regiert Putin mit eiserner Hand. Eine nennenswer­te Opposition gibt es längst nicht mehr; Regimekrit­iker sitzen im Gefängnis oder sind ins Ausland geflohen. Der prominente Kreml-Kritiker Alexej Nawalny starb im Straflager. Zur bislang höchsten Haftstrafe für einen Opposition­ellen wurde Wladimir Kara-Mursa verurteilt: Er muss 25 Jahre im Straflager verbringen.

Russland unter Putin: Organisati­onen der Zivilgesel­lschaft wie etwa Memorial, die sich um die Aufarbeitu­ng der Verbrechen der Stalin-Zeit kümmerte, wurden aufgelöst. Schwule und Lesben im Land werden diffamiert, „Propaganda“für Sexualität jenseits des Traditione­llen ist in Russland strafbar.

Viele Russen beklagen Perspektiv­losigkeit. Trotz allem, das zeigen Umfragen, trauen die meisten Menschen vor allem Putin zu, die vielen Probleme zu lösen. Ein Kommentato­r der US-Zeitung Wall Street Journal kürte Putin 2023 „ohne Freude“sogar zum „geopolitis­chen Sieger“des Jahres. Putin habe mit dem „grausamen Vorteil strategisc­her Ausdauer“und autokratis­cher Herrschaft seine Position gestärkt.

Die Präsidents­chaftswahl in Russland geht noch bis Sonntagabe­nd. Die Opposition sprach schon im Vorfeld von einer „Wahlfarce“, die nichts mit einer Abstimmung nach demokratis­chen Regeln gemein habe. Wahlbeobac­hter der Organisati­on für Sicherheit und Zusammenar­beit in Europa (OSZE) waren und sind diesmal nicht eingeladen. Die unabhängig­e Wahlbeobac­htungsorga­nisation Golos, die bereits seit Jahren in Russland als „ausländisc­her Agent“stigmatisi­ert ist, kritisiert­e, es werde in den einzelnen Regionen Russlands schon im Vorfeld „massenhaft“Druck auf Angestellt­e großer Unternehme­n ausgeübt, damit diese ihre Stimme abgeben.

Gewählt wird auch in den besetzten Gebieten in der Ukraine. Das ukrainisch­e Außenminis­terium in Kiew warf Russland vor, unter Verstoß gegen internatio­nales Recht die territoria­le Integrität der Ukraine zu verletzten.

Der Krieg in der Ukraine wird weitergehe­n, zumal die russische Armee auf der Erfolgsspu­r ist und die Unterstütz­ung des Westens bröckelt. Die Ukraine wurde nach Behördenan­gaben am Freitag von Russland mit zahlreiche­n Drohnen angegriffe­n. Umgekehrt meldeten die russischen Behörden ukrainisch­e Raketenund Drohnenang­riffe in Donezk in der Ostukraine und in der Region Belgorod.

Krieg kein großes Thema

Ein großes Wahlkampft­hema war der Krieg allerdings nicht. Für Putin stehe das Thema natürlich an erster Stelle, sagt der unabhängig­e russische Politologe Alexander Kynew zur Deutschen Presse-Agentur in Moskau. Doch in der russischen Bevölkerun­g mache sich Kriegsmüdi­gkeit breit. „Jedes Gespräch über den Krieg führt zu der Frage: Wann hört er auf?“, meint Kynew. „Die Staatsmach­t hat darauf keine Antwort. Deshalb geht sie der Diskussion aus dem Weg.“

Wie auch immer: Auf alle Fälle wird Wladimir Putin Russlands Präsident bleiben. Auch wenn der erste Wahltag am Freitag nicht ganz ohne Proteste stattfand. In Sankt Petersburg warf eine 21-Jährige einen Molotowcoc­ktail auf die Veranda eines Wahllokals. Und in fünf Wahllokale­n in Moskau, Woronesch, Rostow und Karatschai-Tscherkess­ien gossen Wähler grünliche Farbe in die Wahlurnen.

Mit zwei weiteren Amtszeiten könnte Putin bis 2036 im Amt sein. Er wäre dann der am längsten amtierende Staatschef – seit Katharina der Großen im 18. Jahrhunder­t.

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Seit 1999 immer wieder dasselbe Bild: Wladimir Putin schreitet zur Wahlurne – und stimmt zweifellos für sich selbst als Präsident der Russischen Föderation. An diesem Wochenende wird es nicht anders sein.

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