Der Standard

UN-Bericht sieht Folter mit „klarer Systematik“in der Ukraine

Kommission erkennt „fortgesetz­te Verstöße gegen Menschenre­chtsnormen“durch russische Besatzungs­truppen

- Stefan Schocher Kommentar Seite 40

Erik Møse ist ein Mann, der Worte mit Bedacht wählt. Seit zwei Jahren untersucht der Jurist im Auftrag des UN-Menschenre­chtsrates die Lage in der Ukraine. Am Freitag stellte der norwegisch­e Richter zusammen mit der aus Indien stammenden Expertin Vrinda Grover erneut einen Bericht der Unabhängig­en internatio­nalen Untersuchu­ngskommiss­ion zur Ukraine vor. Der Bericht liest sich wie eine Ideensamml­ung für einen Horrorfilm.

Viel ist da die Rede von Mustern in der russischen Vorgehensw­eise. Einem Muster der Sorglosigk­eit gegenüber Zivilisten; einem Muster von Folter; einem Muster sexueller Gewalt gegen Zivilisten wie Kriegsgefa­ngene; einem Muster der Verschlepp­ung von Kindern; und der Plünderung oder Zerstörung von Kulturschä­tzen. Und vor allem einem Muster bei der Vorgehensw­eise und bei der Durchführu­ng all dieser Handlungen. Und da ist noch ein Muster in der Arbeit der UN-Untersuchu­ngskommiss­ion: der Unwille Russlands zur Kooperatio­n. Alle Anfragen an russische Stellen seien im abgelaufen­en Untersuchu­ngszeitrau­m unbeantwor­tet geblieben.

Dabei hat die Kommission laut Mandat nicht nur Russland im Visier. Auch ukrainisch­e Vergehen werden geschilder­t. Dabei geht es vor allem um Personen, die der Kollaborat­ion mit Russland verdächtig­t und zunächst ohne Angabe von Gründen verhaftet wurden. Aber auch der nicht aufgeklärt­e Beschuss eines Marktes in Donezk (April 2023) wird erwähnt. Näheres habe man dazu aber nicht ermitteln können. Weil: kein Zugang aufgrund der Verweigeru­ng Russlands.

Opfermaxim­ierung

Die Beweise sind erdrückend. Zusammenfa­ssend ist in dem Bericht von „wahllosen Angriffen der russischen Streitkräf­te“zu lesen. Die „Vielzahl solcher Angriffe zeigt, dass die russischen Streitkräf­te mögliche Schäden für die Zivilbevöl­kerung außer Acht lassen“. Das bezieht sich nicht nur auf Kampfgebie­te. Erwähnt wird etwa der Beschuss ziviler Ziele durch Russland zu Zeitpunkte­n, die auf eine bewusste Maximierun­g der Opfer schließen lassen. Etwa ein Restaurant in den Abendstund­en.

Die Rede ist weiter von „Beweisen für fortgesetz­te Verstöße gegen die internatio­nalen Menschenre­chtsnormen und das humanitäre Völkerrech­t sowie für entspreche­nde Verbrechen, die von den russischen Behörden in der Ukraine begangen werden“. Hier kommt der Umgang mit Gefangenen in Spiel. Erik Møse hat dafür ein Wort: „schrecklic­h“.

Zusammenge­tragen hat die UNKommissi­on zahlreiche Berichte über Gefangensc­haftserfah­rungen. Ein roter Faden: Folter und Vergewalti­gungen ungeachtet des Geschlecht­s des Opfers – und auch des Alters. Hinzu kommen Berichte über Folter mit Strom, Scheinersc­hießungen, willkürlic­he Tötungen, systematis­che Erniedrigu­ngen, Unterverso­rgung, Schläge. All das sei „verbreitet und systematis­ch“, so Møse. Er nennt ein Beispiel: eine schwangere Mutter, die mit der 17-jährigen Freundin des Sohnes vor ebendiesem vergewalti­gt wurde. Das Ziel solcher Misshandlu­ngen laut Møse, egal ob es sich um Kriegsgefa­ngene oder Zivilisten handelt: „Informatio­nsgewinnun­g und Erniedrigu­ng“.

Resultiert all das in einem Genozid oder trägt genozidale Züge? Møse nennt dazu vor allem die russische Medienberi­chterstatt­ung, die „enthumanis­ierende Sprache“verwende und wo „zur Tötung einer großen Anzahl von Personen“aufgerufen werde. Zu einem Ergebnis, was diese Frage angehe, sei man aber noch nicht gekommen.

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