„Bläst die Lufttürme um und hemmt die Schnelläufer“
Zum gemeinsamen 150. Geburtstag: Karl Kraus, Arnold Schönberg und das Schachspiel (I).
Wien feiert heuer gleich zwei bedeutende Geburtstage: Vor 150 Jahren wurden Arnold Schönberg und Karl Kraus geboren. Die gleichaltrigen Giganten verband großer Respekt voreinander und, wie ihr Briefwechsel und eine formidable Ausstellung im ArnoldSchönberg-Center zeigt, eine Verbindung, die man Freundschaft nennen kann. Und beide hatten jeweils auf ihre Art ein besonderes Verhältnis zum Schachspiel: Kraus als Kaffeehausbesucher und Zuhörer, Schönberg als Komponist und Spieleerfinder.
Karl Kraus war kein besonderer Freund des Schachspiels. Es gibt keine Aufzeichnungen von Partien von ihm, die Schachmetapher ist ein seltener Gast in seinen Werken. Ein einziges schachaffines Aperçu haben wir gefunden: „Diplomatie“, notiert Kraus in der Fackel 1915 zur Politik, „ist ein Schachspiel, bei dem die Völker mattgesetzt werden.“Schach war Kraus sogar Anlass, dem Café Central den Rücken zu kehren und zumindest zeitweise ins Imperial zu übersiedeln: Die Schachspieler lärmten und hatten eine eigene, surreale Blödelsprache entwickelt, die von den ernsthaften Gesprächen ablenkte. In Literatur oder Man wird doch da sehen 1921 kommen häufig Redewendungen vor, die Kraus den Gesprächen der Schachspieler im Central entnommen und aus dem Zusammenhang gerissen hatte. „Ueber diese Antwort des Candidaten Jobses / Geschah allgemeines Schütteln des Kopfes.“Der schräge Vers entstammte der Jobsiade, einer Studentensatire von Carl Arnold Kortum (1745–1824), und hatte am Schachbrett natürlich eine andere Bedeutung als bei Kortum. Nicht selten wird Kraus selbst mit einem Schachspieler verglichen. Die schönste Charakteristik stammt vom Mai 1910, von Else Lasker-Schüler, der Schwägerin von Weltmeister Emanuel Lasker: „Unentwendbar“, schreibt sie, „inmitten seiner Werkestadt ragt Karl Kraus ein lebendiges, überschauendes Denkmal. Er bläst die Lufttürme um und hemmt die Schnelläufer, den Königinnen mit gewinnendem Lächeln den Vortritt lassend. Er kennt die schwarzen und weißen Figuren von früher her von Neuem hin. Mit ruhiger Papsthand klappt er das Schachbrett zusammen, mit dem die Welt zugenagelt ist.“
Zur selben Zeit, als Kraus noch im Café Central die lauten Schachspieler erdulden musste, trugen nur wenige Meter entfernt Rudolf Spielmann und Richard Réti einen Wettkampf aus. Überraschenderweise gewann der Romantiker Spielmann gegen den feinsinnigen Hypermodernen Réti klar mit 4,5 – 1,5.
Spielmann – Réti Wien 1921, 2. Matchpartie
1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sc3 Sf6 4.Lg5 Lb4 Die scharfe MacCutcheon-Variante der Französischen Verteidigung, benannt nach dem amerikanischen Schachspieler John Lindsay McCutcheon (18571905). 5.e5 Der härteste Test für Schwarz. 5… h6 6.exf6 Heute sind die Rückzüge 6.Le3 und 6.Ld2 beliebter. 6… hxg5 7.fxg7 Tg8 8.Sf3 Df6 9.a3 Le7 Der gerade Weg zu gleichem Spiel ist 9... Lxc3+ 10.bxc3 Dxg7 11.Le2 Sc6 12.Lb5 Ld7 nebst langer Rochade. 10.Ld3 Dxg7 11.De2 Schwarz hat den Bauern zurückgewonnen, hat allerdings Entwicklungsrückstand. Diesen Umstand sucht Spielmann in der Folge zu nützen. 11… g4 12.Se5 Sd7 13.0–0–0 Sxe5 14.dxe5 a6 Präzise Verteidigung, b5 wird kontrolliert. 15.Kb1 Ld7 16.Thf1 Plant f2-f4. Der weiße Angriff ist ins Stocken geraten. 16... Dh6 Nach 16... Th8 nebst Th5 wuchs der schwarze Vorteil. 17.f4 Spielmann will sich mit Subtilitäten wie 17.g3 c5 (17… Dxh2?! 18.Th1 Dg2 19.Se4!) 18.f3 c4 19.Lf5! exf5 20.Sxd5 nicht weiter aufhalten und stürmt voran. 17... Dxh2 18.f5 Dg3 19.Sxd5? Ein ungestümes Opfer, das nicht ausreichen sollte. 19... exd5 20.e6 fxe6 21.f6 Die Pointe. Da 22.f7+ droht, muss Schwarz die Figur zurückgeben. 21… Lxf6 22.Txf6 Ke7?! Festigt zwar für einen Moment die Stellung, aber viel stärker war 22... 0–0–0!. Nicht zu fürchten ist 23.Lxa6 Tgf8! (23… bxa6? 24.Dxa6+ Kb8 25.Td3) mit Gewinn für Schwarz. 23.Th6 Taf8 24.Te1? Das schwer zu sehende 24.Lxa6!! bxa6 25.Txd5 war im Remissinne gerade noch spielbar. 24... Kd8! Gerade rechtzeitig flieht der König aus der Gefahrenzone. 25.Th7 Mit der Drohung 26.Txd7! 25… Tf6 Sicherer war 25… Dd6. 26.c4 Will die Stellung aufbrechen. Positionsgemäßer war 26.Tf1 Tgf8 27.Txf6 Txf6 28.Dd2.
26... Lc6 27.cxd5 Lxd5 Besser ist der Zwischenzug 27... Tf2!, um die Dame von der e-Linie zu vertreiben (28.Dxe6 Dxd3+ 29.Ka1 Te8 (29… Dxh7? 30.dxc6 und setzt matt) 30.Te7 Db5 und Schwarz wird gewinnen. 28.Tc1 Tgf8 Nicht 28… Tf2? wegen 29.Tcxc7.
29.Tcxc7 Tf1+ 30.Kc2 Erzwungen, doch zugleich eine Falle. Die Lage spitzt sich erneut dramatisch zu. 30... T8f2?? Der plötzliche tiefe Fall, nachdem Réti so lange alle Komplikationen gut gemeistert hat. Nach 30... Dxc7+! 31.Txc7 T1f2 32.Tg7 Lxg2! 33.Txg4 Lf1 34.Td4+ Ke7 35.Dxf2 Txf2+ 36.Kc1 e5 37.Td5 Lxd3 38.Txd3 Ke6 39.Td8 Tf7 steht Schwarz auf Gewinn. So aber 1–0 wegen 31.Thd7+ Ke8 32.Lg6+ Tf7 (32… Kf8 33.Tc8 matt) 33.Lxf7+.