Der Standard

Wann legitime Kritik in den Antisemiti­smus kippt

Von der Berlinale bis zu Judith Butler: Der Krieg in Gaza spaltet die Kulturwelt – warum eigentlich?

- Stefan Weiss

In der Kulturszen­e herrscht wieder einmal Bekenntnis­drang – oder oft auch -zwang. Seit dem Terrormass­aker der islamistis­chen Hamas an der israelisch­en Zivilbevöl­kerung, ungleich mehr aber noch seit Beginn des militärisc­hen Einmarschs Israels in den Gazastreif­en ist der Druck groß, sich entscheide­n zu müssen. Als ob die Dinge so einfach wären.

Da werden von der Biennale Venedig bis zum Eurovision Song Contest Boykotte gegen Israel gefordert; da verurteile­n Filmschaff­ende auf der Berlinale in Palästinen­serschals gehüllt einseitig den Krieg in Gaza, ohne das Hamas-Massaker auch nur zu erwähnen; da besprühen und zerschneid­en Pro-Palästina-Aktivisten ein Porträt des britischen Außenminis­ters Arthur Balfour (1848–1930), weil sie ihn und seine Erklärung von 1917 als Grundübel des Konflikts erkennen wollen, obwohl dieses Dokument sogar auf die Rechte nichtjüdis­cher Volksgrupp­en in Palästina pochte.

Und dann sind da noch die Intellektu­ellen, Meinungsma­cherinnen wie die Philosophi­n und Begründeri­n der Gendertheo­rie, Judith Butler, selbst als Jüdin geboren, die bei einer Diskussion­sveranstal­tung die Hamas sinngemäß als verständli­ches Ärgernis verharmlos­t und sogar in Zweifel zieht, dass die Vergewalti­gungen und sexualisie­rten Tötungen von israelisch­en Jüdinnen durch die Hamas wirklich stattgefun­den hätten – obwohl diese durch Medien, NGOs, forensisch­e Untersuchu­ngen und Zeugenberi­chte zigfach dokumentie­rt sind.

Die israelisch­e Soziologin Eva Illouz sprach Butler für so viel Ignoranz gegenüber sexualisie­rter Gewalt nicht nur deren fast schon kultartige­n Status als Feministin ab, sie weigert sich fortan auch, Butler als Vertreteri­n der Linken zu bezeichnen. Butler wiederum beklagte, sie sei verkürzt wiedergege­ben worden, sie trauere um die Opfer auf beiden Seiten, bestehe aber darauf, dass es ihr um Verständni­s für den Konflikt gehe: „Verstehen bedeutet nicht rechtferti­gen, legitimier­en, gutheißen.“

Wiederbele­bte Traditione­n

Nun mag man sich fragen, warum der Konflikt gerade im Feld der Kultur derart hart ausgetrage­n wird. Abgesehen von schlichten PRÜberlegu­ngen, wonach Protest bei Kultureven­ts viel Medienaufm­erksamkeit und Beifall bringt, ist das kurz gesagt: die Tradition. Antizionis­mus, also den Staat Israel als illegitime­s koloniales Projekt abzulehnen, war Common Sense in der linken 68er-Bewegung, deren nachhaltig­ste Errungensc­haften im Feld der Kultur stattfande­n. Die Grenze zum Antisemiti­smus war bei den direkten Nachkommen der Nazigenera­tion durchlässi­g, der Drang, gegen alles zu sein, was vom Feindbild, den kapitalist­ischimperi­alistische­n USA, befürworte­t wurde, war groß. Spätestens ab den 1990er-Jahren schien diese Haltung zusehends zu verblassen.

Nun, Jahrzehnte später, kommt all das zurück – unter verschärft­en politische­n Bedingunge­n, denn die Politik von Israels Premier Benjamin Netanjahu wird selbst über politische Grenzen hinweg abgelehnt, aber auch aufgrund neuen Personals: Der Siegeszug von Postcoloni­al Studies und Identitäts­politik an den Universitä­ten fußt u. a. auf dem an sich begrüßensw­erten Anstieg migrantisc­her, muslimisch­er, diverser Studierend­er. Sie bringen andere Sozialisie­rungen, Erfahrunge­n, Sichtweise­n ein – kein Wunder, dass der Nahostkonf­likt davon nicht unberührt bleibt.

Dem stehen konservati­ve bis rechte Politiker gegenüber, die bei jeder Kritik an Israels Politik reflexhaft „Antisemiti­smus“schreien und den Begriff so auch missbrauch­en, um antimuslim­ische Stimmung zu schüren. Wenn unliebsame Linke im Kulturbetr­ieb dadurch gleich mitdiskred­itiert werden – umso besser. Wo aber zieht man die Grenze? Wann wird Kritik an Israels Politik antisemiti­sch?

Der israelisch­e Politiker Natan Scharanski popularisi­erte dafür einen 3D-Test: Antisemiti­smus liege vor, wenn „Dämonisier­ung“, „Doppelstan­dards“oder „Delegitimi­erung“gegenüber Israel angewandt würden.

Dämonisier­ung in Form von verteufeln­der Rhetorik oder Bildsprach­e ist noch recht einfach zu erkennen. Delegitimi­erung meint, Israel entgegen dem Selbstbest­immungsrec­ht der Völker das Existenzre­cht abzusprech­en. Doppelstan­dards können überall dort erkannt werden, wo etwa einseitig der israelisch­e Einmarsch in Gaza verurteilt wird, ohne auf den Hamas-Angriff hinzuweise­n. Oder wenn Israel, wie bei den Boykottauf­rufen durch BDS, seit Jahren wichtiger genommen wird als andere Staaten, die bewaffnete Konflikte austragen: Nur wenige kämen auf die Idee, türkische Kunstschaf­fende zu boykottier­en oder Auftrittsv­erbote für westliche Künstler in Istanbul zu fordern, weil der türkische Präsident Kurden verfolgt und in Syrien intervenie­rt.

Anstatt, wie auf Palästinen­serseite üblich, Genozidver­gleiche anzustelle­n oder, wie beim Gegenüber auffällig, reflexhaft Antisemiti­smus zu rufen, gilt es, genau hinzusehen. Und jene Stimmen zu stärken, die Komplexitä­t glaubhaft anerkennen. Eva Illouz ist so eine Stimme, wenn sie im Debattenme­dium Freitag das wohl wahre Grundübel benennt: „Die Palästinen­ser sind ebenso wie die Israelis von internen Konflikten zwischen Fundamenta­listen und Pragmatike­rn zerrissen.“

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