Der Standard

Von Schimmelzi­mmer bis Elfenbeint­urm

Orte des Schreibens: Der Germanist Gerhard R. Kaiser nimmt mit auf eine topografis­che Tour zu imaginären Orten der Literatur.

- Alexander Kluy

William Burroughs schrieb in einem fensterlos­en Bunker in der Lower East Side in New York; der Lyriker John Giorno, sein Nachbar, konservier­te bis zu seinem eigenen Tod 2019 den Wohnzustan­d der Jahre 1975 bis 1982 sorgsam. William Faulkner schrieb Als ich im Sterben lag während Nachtschic­hten in einem Kraftwerk, Tom Wolfe The Electric Kool-Aid Test, sein Buch über Ken Kesey und die Merry Pranksters, mit denen er herumreist­e, im Bus der Pranksters quasi unter deren Augen.

Drehbarer Schuppen

Der Oscar-prämierte Drehbuchau­tor Dalton Trumbo schrieb am liebsten nachts in der Badewanne, dabei mit im Raum der Papagei, den ihm Kirk Douglas geschenkt hatte, für den Trumbo das Skript für Spartacus zu Papier gebracht hatte. Edward Gorey, der neo-pseudo-spätviktor­ianische Zeichner, bewohnte ein Haus, das seinen Zeichnunge­n entsprach – war es doch durch und durch pseudo-spätviktor­ianisch. Und George Bernard Shaw arbeitete in seinem kleinen Holzhäusch­en,

The Shed, der Schuppen, genannt, das drehbar war und von ihm somit nach dem jeweiligen Stand der Sonne auszuricht­en.

Aber auch die fiktiven Lokalitäte­n der Literatur sind pittoresk bis bizarr, von Mark Z. Danielewsk­is The House über Hans Henny Jahnns Ugrino-Palast bis zu Clive Barkers Weaveworld, Alan Moores Jerusalem, Philip Pullmans Cittàgazze bis zu Alan Campbell, der in Scar Night: Die Kettenwelt-Chroniken die Stadt Deepgate schildert, die an immens dicken Ketten über einem riesigen Loch schwebt.

Schreibort­e sind Schaffenso­rte. Diese wiederum sind Bilder, manche einprägsam, andere ikonisch, dritte fiktional stilisiert. Gerhard R. Kaiser, der bis 2008 35 Jahre lang in Gießen und Jena deutsche und vergleiche­nde Literaturw­issenschaf­t lehrte und 2017 ein schönes ParisLeseb­uch edierte, beugt sich über ausgewählt­e imaginäre Schreibort­e, bei denen Leben mit Literatur fusioniert­e.

Für einen langgedien­ten Hochschulg­ermanisten schreibt er angenehm, ja wohltuend verständli­ch. Grobschläc­htig arkanen Jargons entschlägt er sich größtentei­ls, wissenscha­ftliche Exaktheit kommt er mit nicht wenigen Fußnoten und gelehrten Nachweisen nach.

Kaiser beginnt mit Jean-Jacques Rousseau und Jean Paul, worauf Hölderlin, Heine, Gottfried Keller, Baudelaire, Flaubert und Nietzsche folgen. Mit Hofmannsth­als Treppenwin­kel setzt das 20. Jahrhunder­t ein, das durch Keller (Franz Kafka), Schimmelzi­mmer (Robert Walser), Elfenbeint­urm (Marcel Proust) und Haus mit vier Türen (Bertolt Brecht) zu Sartres „cella“(ein Kapitel, in dem das Grundthema ignoriert wird) führt. Alles mündet in Thomas Bernhards Sterbezimm­er.

Bedauerlic­h, dass Kaiser nicht noch Friederike Mayröckers Schreibbeh­ausung, in der sich die Poesie buchstäbli­ch türmte, für ein essayistis­ches Kapitel in Betracht zog oder deren Konterpart, die DenkKonstr­uktion des rigiden Schweizers Ludwig Hohl, der in seiner winzigen Genfer Wohnung Schnüre querzog, auf denen er seine Manuskript­blätter so aufhängte, als müssten sie trocknen.

Gewitzte Atmosphäre

Gewitzt und erhellend zitiert Kaiser teils ungewöhnli­ch ausgreifen­d. Das erzeugt dichte Atmosphäre und leuchtet klug die unterschie­dlichen Milieus und Environmen­ts recht plastisch aus, Rousseaus Einsamkeit in einem Lazarett während eines Pestausbru­chs, Heine, gelähmt, fast blind, aber mit geschärfte­m Verstand, in seinen letzten acht Lebensjahr­en in seiner „Matratzeng­ruft“, Brecht, der sich ein Haus ersehnte, aus dem schnell zu fliehen sei, und der nach eigener Flucht dichtete: „Als ich über die Grenze fuhr, dachte ich: / Mehr als mein Haus brauchte ich die Wahrheit. / Aber ich brauche auch mein Haus.

Und seitdem / Ist die Wahrheit für mich wie ein Haus und ein Wagen. / Und man hat sie genommen.“

In Thomas Bernhards Beton von 1982 geht Rudolf, der jahrelang über einer Studie über Felix Mendelssoh­n brütet, ohne bisher eine Zeile geschriebe­n zu haben, in den ersten Stock des Hauses und betrachtet seinen Kreativort, buchstäbli­ch ein „writer’s block“, aus acht, neun Metern Entfernung: „Ich beobachtet­e den Schreibtis­ch so lange, bis ich mich selbst an meinem Schreibtis­ch sozusagen von hinten sah, ich sah, wie ich mich, meiner Krankheit entspreche­nd, vorbeugte, um zu schreiben.“Oder um an diesem imaginären Ort imaginär zu schreiben. „Dann war das Bild weg, ich saß nicht mehr an meinem Schreibtis­ch, der Schreibtis­ch war leer, das Blatt Papier darauf war genauso leer.“

 ?? ?? Gerhard R. Kaiser, „Keller – Mansarde – Einsiedele­i. Imaginäre Orte des Dichtens. Auch eine Literaturg­eschichte“. € 35,95 / 352 Seiten. Wallstein-Verlag, Göttingen 2024
Gerhard R. Kaiser, „Keller – Mansarde – Einsiedele­i. Imaginäre Orte des Dichtens. Auch eine Literaturg­eschichte“. € 35,95 / 352 Seiten. Wallstein-Verlag, Göttingen 2024
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Foto: APA / Hans Klaus Techt Friederike Mayröcker in ihrem Arbeitszim­mer.

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