Sexuelle Verrohung – aber woher?
Oversexed? Underfucked? Oder einfach verwahrloste Jugendliche? Um die eigenen Männlichkeitszweifel zu vertreiben, wird das Machtbedürfnis sexualisiert.
Der Schriftsteller Franzobel hat im STANDARD kürzlich anlässlich der sexuellen Übergriffe von Minderjährigen seine Sorge über den Umgang mit Sexualität bei Kindern und Heranwachsenden formuliert (siehe „Jugend ohne Gott“, 16./17. 3. 2024).
Er vermutet eine zur Gefühllosigkeit führende „Pornografisierung“der Gesellschaft als wichtigen Grund dafür. Immerhin stellen Missbrauchshandlungen Minderjähriger rund ein Viertel aller bekannt werdenden Fälle dar. Tatsächlich gab es noch nie derart offene Möglichkeiten des Zugriffs auf Pornografie (also „oversexed“?) schon für Kinder. Wohlmeinende Vorschläge von Medienpädagoginnen und -pädagogen, die Jugend müsse halt „Pornografiekompetenz“erwerben, wirken hilflos, vor allem, weil bei solchen Taten nicht nur Sex eine Rolle spielt.
Im sexualwissenschaftlichen Entwicklungsland Österreich sind Erklärungen und Hilfsangebote in Bezug auf solche Taten Mangelware. Stattdessen schnellt die Empörungskurve jedes Mal rapide in die Höhe. Moralische Empörung ist aber nie ein guter Ratgeber und vernebelt die Wahrnehmung. Was also bedeuten diese Vorfälle?
Nach Jahrzehnten wissenschaftlicher Befassung mit Sexualität fällt mir dazu als Erstes ein Satz des renommierten deutschen Sexualforschers Gunter Schmidt ein: „Das Wichtigste an der Sexualität ist das Nichtsexuelle.“Das heißt, dass der „Sexualtrieb“schon seit Sigmund Freud immer als ein sozialisierter zu sehen ist, also verbunden mit allerlei sonstigen Bedeutungen.
So werden Triebbedürfnisse je nach Biografie und Sozialisation auch mit anderen, nichtsexuellen Bedürfnissen aufgeladen und drängen nach Befriedigung: Geborgenheit und Aufgehobenheit oder auch das Ringen um Anerkennung und Bedeutsamkeit gegen empfundene Ohnmacht oder Bedeutungslosigkeit zum Beispiel. Und Ohnmacht ist immer – auch im Sexuellen – ein Einfallstor für Gewalt, die als Macht der Ohnmächtigen gilt.
Sexualisierte Protzerei resultiert somit nicht einfach aus Triebhaftigkeit, sondern ist eine Reaktion auf innere Kleinheit, quasi eine „Zwergenmännlichkeit“, die aber verleugnet wird. Und um die Männlichkeitszweifel zu vertreiben, wird das Machtbedürfnis sexualisiert.
Die als Auslöser jugendlicher sexueller Gewalt von Franzobel vermutete Pornozugänglichkeit mag eine gewisse Rolle spielen, insofern hier höchst fragwürdige Frauenund auch Männerbilder von ständiger sexueller Bereitschaft bei Unterwerfung der Frauen transportiert werden.
Primär aber scheinen verschiedenste ungünstige Bedingungen psychosozialer Benachteiligung und Verwahrlosung in den Herkunftsmilieus Auslöser zu sein, wobei das hypermaskuline Verhalten maskuline Hilflosigkeitsgefühle kaschieren soll. Bezüglich dieser starken persönlichen Defizite als Tatvoraussetzungen besteht Einigkeit in der Forschung, wobei die patriarchalen Inszenierungen jene Machtgefühle versprechen, die im Leben versagt blieben.
Unsicherer und defensiver
Wichtig ist auch – besonders für sozial deprivierte männliche Jugendliche – die Veränderung des Geschlechterverhältnisses und der ersten Sexualerfahrungen der letzten Jahrzehnte: Viele früher „anbahnungsinitiative“Burschen sind im Vergleich zu den selbstbewusster gewordenen Mädchen unsicher und defensiver geworden – eigentlich ein Erfolg der Frauenbewegung. So hat sich auch das Alter der ersten Petting- und Koituserfahrungen deutlich nach hinten verschoben (also „underfucked“?), sogar in so liberalen Ländern wie den Niederlanden. Interessant auch, dass die Forschungsergebnisse zeigen, dass Mädchen und Frauen nun unbewusst eher als überlegen, nicht als unterlegen erlebt werden.
In diesem Zusammenhang hat man – was ich im Bereich der Bubenund Männerforschung oft eingemahnt hatte – vielfach die Problemsicht auf und die prophylaktische Arbeit mit männlichen Jugendlichen (nicht nur mit Migrationshintergrund) vernachlässigt. Aus den Veränderungen eines bröckelnden Patriarchats ergibt sich bei gewissen Burschen ein breites Spektrum von geschlechtsbezogenen Orientierungsproblemen, was aber durch die stärkere Orientierung auf den Opferschutz zu wenig Beachtung fand.
Jedenfalls sind Jungs, die so scheußliche Taten begehen oder sich daran beteiligen, nicht in erster Linie sexuell verkommene, pornografisierte Subjekte, sondern man muss gerade angesichts multipler Krisen genau hinsehen, was sonst (das Nichtsexuelle!) mit ihnen und mit unseren Jugendlichen überhaupt los ist. Petra Stuiber hat das in ihrem Kommentar (16./17. 3.) gut getroffen: Wir müssen viel mehr darauf schauen, wo es Jugendlichen schlecht geht. Der Ruf der Kinderund Jugendpsychiatrie nach mehr Ressourcen ist wohl nur die Spitze des Eisbergs.
Parteipolitischer Unsinn
Sicher ist: Kein mit sich und seinem familiären, schulischen und sozialen Umfeld auch nur halbwegs zufriedener, sozial integrierter Jugendlicher mit entsprechenden Zukunftsaussichten begeht solche Taten – egal ob Einheimischer oder Migrant. Daran gälte es zu arbeiten. Deshalb sind auch die Forderungen (wie die der offenbar überforderten Jugendstaatssekretärin) nach früherer Strafmündigkeit oder härteren Strafen parteipolitisch-ideologischer Unsinn, wie auch sämtliche Expertinnen und Experten aus dem Bereich der Psychologie, der Forensik, der Sozialpädagogik nun betonen, weil das viel zu kurz greift. Wer aus parteipolitischer Ideologie solche Pseudomaßnahmen forciert, übersieht die eigentlichen Ursachen und Probleme.
JOSEF CHRISTIAN AIGNER ist Bildungswissenschafter, Psychoanalytiker und emeritierter Professor für psychosoziale Arbeit und psychoanalytische Pädagogik an der Universität Innsbruck.