Der Standard

Vor dem IS ist weder Westen noch Osten sicher

Für Experten kommt der Terrorüber­fall des „Islamische­n Staats Provinz Khorasan“in Moskau nicht unerwartet. Dieser IS-Zweig gilt derzeit als der internatio­nal aktivste. Auch Europa und Afrika sind bedroht.

- ANALYSE: Gudrun Harrer

Die russische Propaganda nützt den Terrorüber­fall auf die Crocus City Hall am Freitagabe­nd für die Mobilisier­ung gegen die Ukraine: Der Aspekt, dass der „Islamische Staat“(IS) mit einem aufwendige­n Großattent­at auf der terroristi­schen Bühne zurück ist, gerät dabei fast in den Hintergrun­d. Von internatio­nalen Fachleuten wird die Authentizi­tät der Bekennersc­hreiben nicht bezweifelt, die der zentralasi­atische Zweig der Organisati­on, der „Islamische Staat Provinz Khorasan“(ISPK oder IS-K), auf unterschie­dlichen Kanälen veröffentl­icht hat.

Vor dem IS-K wurde zuletzt vermehrt gewarnt, mit Anschlägen in Europa und Asien sei in den nächsten Monaten zu rechnen, hieß es von Geheimdien­sten. Auch Afrika gilt als kommendes Operations­gebiet. Aus den USA sollen im Vorfeld des Moskauer Überfalls konkrete Warnungen an Russland gegangen sein, die – zumindest öffentlich – nicht ernst genug genommen wurden. Vielleicht dachte man auch, mit der Verhinderu­ng eines Attentats auf eine Synagoge Anfang März in Moskau sei die Gefahr abgewendet.

Auf Russland „fixiert“

Dass Russland zum Ziel wurde, überrascht Experten keineswegs. Reuters zitiert Colin Clarke vom Soufan Center, einem New Yorker Thinktank, der von einer aktuellen „Fixierung“des IS-K auf Russland spricht. Die schlechte Behandlung von Muslimen – etwa in Syrien, wo Moskau das Assad-Regime unterstütz­t – kommt demnach in den Propaganda­kanälen des IS-K in den letzten Jahren überdurchs­chnittlich oft vor. Auf die russische Botschaft in Kabul in Afghanista­n, dem Kernland des IS-K, wurde im September 2022 ein Selbstmord­anschlag verübt.

Das heißt nicht, dass der IS-K nicht auch in Europa aktiv wäre. Im Zusammenha­ng mit vermuteten Attentatsp­länen in Wien und Köln – in beiden Städten sollte der Dom im Visier stehen – gab es vor Weihnachte­n Verhaftung­en von mutmaßlich­en IS-K-Angehörige­n. Da wie dort waren Tadschiken unter den Verdächtig­en bzw. mutmaßlich­en Tätern.

Khorasan ist der Name einer historisch­en Provinz in Zentralasi­en. Der IS-K entstand ursprüngli­ch als Sammelbeck­en frustriert­er Taliban, denen die eigene nationalre­ligiöse Bewegung nicht internatio­nal-jihadistis­ch genug angelegt war. Da die Taliban paschtunis­che Nationalis­ten sind, sind andere Ethnien in ihrem Herrschaft­sbereich – eben Tadschiken, aber auch Usbeken – besonders leicht für die Propaganda des IS-K ansprechba­r.

Der IS-K gilt heute als jener Zweig des „Islamische­n Staats“der am meisten rekrutiert. Dabei steckte er, wie Antonio Giustozzi im Jänner für das Internatio­nal Centre for Counter-Terrorism (ICCT) in Den Haag schreibt, 2023 noch in einer ernsten Krise. Die Taliban in Afghanista­n erzielten militärisc­he Erfolge gegen ihren Konkurrent­en, und auch die Türkei, wo IS-Umtriebe jahrelang geduldet wurden, griff hart gegen sie durch. Das führte zu Finanzieru­ngslücken und sinkendem Zulauf. Langsam erholt sich der IS-K aber wieder, wozu interne Spannungen unter den afghanisch­en Taliban und zwischen afghanisch­en und pakistanis­chen Taliban beitragen könnten, schreibt Giustozzi, der Autor einer Monografie über den IS-K ist.

Vor allem im Westen war die ganze Aufmerksam­keit lange auf den „arabischen“IS konzentrie­rt, auch wenn in Syrien und im Irak, wo er vor zehn Jahren ein riesiges Territoriu­m kontrollie­rte, IS-Kämpfer aus Zentralasi­en und aus dem Kaukasus, besonders viele Tschetsche­nen, eingesetzt waren. Dass der „Islamische Staat“gleichzeit­ig sowohl den Westen als auch das antiwestli­che Russland angreift, ist mit dem vorherrsch­enden bipolaren politische­n Denken schwer vereinbar. Die Formel „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“gilt hier nicht, oder nur in sehr begrenzten Konstellat­ionen.

Afghanista­n 1979–1989

Für globale Jihadisten war zwischen Washington und Moskau nie ein großer Gedankensp­rung. Die ideologisc­hen Vorgänger des IS kämpften in Afghanista­n 1979–1989 gegen die sowjetisch­e Besatzung, mit US-Hilfe. Den Abzug Moskaus 1989 sahen die Mujahedin als Triumph, der sie zu ihrem zukünftige­n Kampf gegen den „westlichen Imperialis­mus“ermutigte. Genauso gilt der Kampf jedoch den Großmachtp­olitiken von Russland und China, die islamistis­che Strömungen in ihren eigenen Ländern bekämpfen. Und sie richtet sich auch gegen Staaten mit „islamische­n“Führungen wie Iran und Saudi-Arabien. Das letzte Großattent­at des IS-K fand im Jänner in der Islamische­n Republik statt, deren Schiitentu­m für die IS-Ideologie als Häresie gilt und die mit Russland verbündet ist.

Ungeachtet der schweren IS-Attentate mit hunderten Toten, die jahrelang Europa erschütter­ten, grassiert im Globalen Süden die Verschwöru­ngstheorie, dass der IS eine USKreation ist, um im Nahen Osten intervenie­ren zu können. Sie fußt unter anderem darauf, dass die USA nach dem Aufstieg des IS in Syrien und im Irak dort erneut eine militärisc­he Präsenz etablierte­n, die bis heute andauert.

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