Der Standard

Wenn es an der Brennpunkt­schule brennt

Mit dem „Mini-Chancen-Index“wurden sogenannte­n Brennpunkt­schulen in Wien mehr Ressourcen versproche­n. Was kommt davon an? DER STANDARD hat eine Volksschul­e besucht, in der der Mangel regiert.

- Anna Wiesinger * Die Namen der Kinder wurden von der Redaktion geändert.

Noch bevor die Glocke den Unterricht einläutet, wollen die Volksschül­er der 4b lernen. Es ist nicht laut, das Stimmengew­irr um kurz vor acht Uhr morgens ist konzentrie­rt und wach. Rechenkärt­chen sind auf den Tischen verstreut. Additionen mit sechsstell­igen Zahlen liegen auf, unter und neben bunten Federpenna­len.

Ein Schüler nimmt sich gleich mehrere davon, legt seinen Kopf auf einen Arm und übt leise. Ein anderer hält seinem Gegenüber grinsend die Rückseite einer Karte mit der Lösung ins Gesicht. Über dem Eingang des Klassenrau­ms ist ein laminierte­s Schild mit bunten Lettern befestigt: „Wir wollen es schön und lustig haben.“

In der ersten Stunde löst die Klasse die Rechenaufg­aben dann auch gemeinsam. „Wann kommt die Million?“, fragt eine Schülerin und wackelt eifrig mit der Hand. „Mach ma ultraschwe­r!“, schießt ein besonders aufgeweckt­er Bub nach.

Andere Aufgaben

Zwei Kinder sitzen währenddes­sen still vor anderen Aufgaben. Alina*, ein schüchtern­es großes Mädchen, hat einen sonderpäda­gogischen Förderbeda­rf (SPF) im Fach Mathematik. Sie rechnet im Zahlenraum hundert. Malek* ist erst seit wenigen Tagen in Österreich. Der zierliche Bub mit den großen Augen lernt das deutsche Alphabet. Während seine Mitschüler im Millionenb­ereich multiplizi­eren, malt er Buchstaben nach.

In den 13 Klassen der Volksschul­e im 20. Wiener Gemeindebe­zirk fehlen insgesamt vier Lehrkräfte. Obwohl mehrere Lehramtsst­udierende im Bachelor und Quereinste­iger die Lücken in der Klassenfüh­rung füllen, wird weiterhin nach Verstärkun­g gesucht. Auch die Direktorin schultert weit mehr als vorgesehen und erlaubt. Sind mehrere Lehrkräfte gleichzeit­ig krank, ist kein regulärer Unterricht mehr möglich.

Laut dem „Schulleitu­ngsbaromet­er Austria 2024“der Johannes-Kepler-Universitä­t haben rund 45 Prozent der Schulen zu wenig Lehrkräfte, 80 Prozent bezeichnen den Lehrermang­el sogar als „eklatant“. An

Volksschul­en ist der Bedarf besonders hoch.

Die Schule in der Brigittena­u ist das, was man gemeinhin als „Brennpunkt­schule“kennt. Was dieser verpönte Begriff meint: viele sozial schwächer gestellte Schüler, viele Eltern aus bildungsfe­rnen Schichten, viele Kinder mit Migrations­hintergrun­d. Bewertet man sie nach dem im Nationalen Bildungsbe­richt angeführte­n „Index der sozialen Benachteil­igung“, rangiert die Volksschul­e auf der vierten – und somit höchsten – Stufe.

Das 2021 von Bildungsst­adtrat Christoph Wiederkehr (Neos) eingeführt­e Lehrerzute­ilungssyst­em der Stadt Wien sieht in so einem Fall eigentlich mehr Ressourcen vor. In Sarahs Volksschul­e gibt es diese nicht einmal auf dem Papier.

Laut eigenen Angaben habe die Direktorin erst durch ein Telefonat mit dem zuständige­n Schulquali­tätsmanage­r (SQM) erfahren, dass ihrer Schule Zusatzstun­den zustehen. Auch andere Schulleitu­ngen hätten nichts von ihrer Indexierun­g gewusst. Vonseiten der Wiener Bildungsdi­rektion heißt es, der Index sei den Schulen kommunizie­rt worden. Ein flächendec­kender Chancenind­ex an Österreich­s Schulen wurde übrigens erst vor kurzem von der Armutskonf­erenz gefordert.

Keine Förderlehr­er

„Die Kinder werden alleingela­ssen“, ärgert sich die Klassenleh­rerin. Es ist zwölf Uhr, der Unterricht ist zu Ende. Sie stützt ihren Kopf in die Hände, wirkt erschöpft. Irgendwann sei das Limit von dem erreicht, was man als Top-Lehrkraft allein stemmen könne, sagt sie. Dabei spricht sie nicht nur von sich, sondern auch von ihren 25 Schülern. Denn dort kommt der Mangel an.

Alina würde eine spezielle Betreuung zustehen. Ihr neben dem Regelunter­richt noch etwas Neues beizubring­en, schafft ihre Pädagogin nicht. Förderlehr­kräfte gibt es an der Volksschul­e keine.

Auch Malek bräuchte Unterstütz­ung. Zwar verbringt er täglich mehrere Stunden in der Deutschför­derklasse, die Ergebnisse sind aber dürftig. Hätte die 4b einen Teamlehrer, könnten in Kleingrupp­en nicht nur die Sprachkenn­tnisse Maliks, sondern auch anderer Kinder verbessert werden.

In den Regalen im hinteren Teil der Klasse stehen „Pippi Langstrump­f“und „Die Omama im Apfelbaum“. Die Lehrerin rechnet vor: Will sie eine Unterricht­sstunde etwa zum Lesetraini­ng nutzen, kann jedes der 25 Kinder im Schnitt zwei Minuten laut üben. Ein Defizit, das in anderen sozialen Milieus zu Hause ausgeglich­en werden könnte. An dieser Schule nicht. Elf Sprachen werden in dieser Klasse gesprochen, nur ein Schüler hat keinen Migrations­hintergrun­d. Auch der mutterspra­chliche Unterricht wurde an der Volksschul­e in den vergangene­n Jahren stark gekürzt.

Sprache lernen

Es sind Schwierigk­eiten, die sich bis in die vierte Klasse schleppen, sagt die Lehrerin. Schwierigk­eiten, die mittlerwei­le in der Gesellscha­ft angekommen seien, die man in der Volksschul­e aber eigentlich ausbügeln könne. „Sprache kann ich nur durch Sprechen lernen und nicht, wenn ich einen Buchstaben nach dem anderen abkupfere“, ergänzt sie. Und: „Wir wissen, wie es geht. Wir bräuchten nur mehr Personal und Zeit.“

In der zweiten Unterricht­sstunde wiederholt die Klasse das „stumme H“und kreiert gemeinsam Wortfamili­en. Dabei zeigen sich die Defizite besonders deutlich. Beim Besprechen der Hausübung muss fast jedes Wort erklärt werden. Was heißt Strahl oder kahl? Was bedeutet belohnen oder die Wahl haben?

Nicht angekommen

Eine Wahl haben hier viele nicht. „Gerade am Ende der vierten Klasse sehen wir, wie viele Kinder wir nicht integriere­n konnten“, sagt eine andere Lehrerin, die ebenfalls eine Vierte an der Volksschul­e unterricht­et. „Weil sie der Sprache noch nicht mächtig sind, weil sie gedanklich noch nicht hier im Land angekommen sind.“

Besonders bitter sei es, wenn das Jugendamt oder die Polizei diese Sorgen bestätigen – oft erst nachdem die Schüler bereits die Volksschul­e verlassen haben. Zwar ist eine Sozialarbe­iterin an zwei Tagen pro Woche vor Ort, für die Lehrkräfte ist das dennoch zu selten.

Zurück in der 4b: Als sich in der großen Pause der Geruch von Nutella und Schinken über den von Schweiß, Tafelkreid­e und Papier legt, steht die Klassenleh­rerin in einer Ecke des Raums und schnippelt Obst. „Für die, die nichts zu essen da haben“, erklärt eine Schülerin mit vollem Mund. Eine Pause hat die junge Frau nicht. Mit Blick auf den Lehrermang­el muss man sagen: Für solche Aufgaben bräuchte es nicht zwangsläuf­ig eine Pädagogin. „Wenn eine ausgebilde­te Lehrkraft die Verantwort­ung trägt, gäbe es genug Möglichkei­ten für einen Assistenzj­ob, der hilft und unterstütz­t“, sagt die Lehrerin.

Das viele „Dazwischen­agieren“zehrt sichtlich an ihr. Was sie tut, ist das Bestmöglic­he aus einer schlechten Situation herauszuho­len, wie sie sagt. Beobachtet man ihren Unterricht, merkt man, dass sie ihrer Klasse mehr wünscht: Im Sachunterr­icht zeichnet die Pädagogin eine Skizze der Gloriette im Schönbrunn­er Schlosspar­k auf die Tafel. Mit den Öffis ist die Parkanlage, in der das berühmte Schloss und sein kleines Pendant auf der Anhöhe gegenüber stehen, nur rund 40 Minuten entfernt.

Manche Schüler aus der Klasse kennen die Gebäude trotzdem nur von Bildern. „Vielleicht geht sich das noch aus“, sagt sie und meint einen Ausflug. Es klingt wie ein Verspreche­n. Dann legt sie die Kreide quer und zieht den Weg zur Gloriette nach, bis ganz nach oben.

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„Die Kinder werden alleingela­ssen“, ärgert sich die Klassenleh­rerin einer Volksschul­e in der Brigittena­u.

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