Der Standard

Die Armutsbekä­mpfung stagniert

Im neuen Sozialberi­cht skizzieren Experten, wie sich die Lage der Ärmeren verbessern ließe – und setzen unter anderem auf höhere Leistungen. Doch das stößt auf Widerspruc­h.

- Gerald John Kommentar Seite 24

Es ist eine Figur, die nicht verschwind­en will: Steht das Sozialsyst­em zur Diskussion, taucht immer wieder der Nutznießer in der „Hängematte“auf. Weil es sich dank üppiger Leistungen gut leben lasse, so die These dahinter, zahle sich das Arbeiten nicht aus.

Sieht so die Realität aus? Ein Blick in die Statistik legt das nicht nahe. Demnach steht und fällt der Wohlstand mit dem Erwerb: Wer keinen Job ausübt, ist einer viel höheren Gefahr der Verarmung ausgesetzt.

Nachzulese­n ist das im neuen Sozialberi­cht, den das von den Grünen geführte Sozialmini­sterium am Dienstagab­end präsentier­t hat. Die dort ausgebreit­eten Analysen bieten zwar keine abschließe­nde Bilanz der Teuerungsk­rise, zumal die letztverfü­gbaren Zahlen von 2022 stammen. Doch immerhin lässt sich ein längerfris­tiger Trend ablesen.

201.000 Arme

Dieser offenbart keine sonderlich­en Veränderun­gen: 201.000 Menschen, das sind 2,3 Prozent der Bevölkerun­g, gelten als sozial und materiell depriviert, was ein Indikator für absolute Armut ist. Der Anteil ist seit 2018 im Wesentlich­en ebenso konstant wie jener der Armutsgefä­hrdeten: 14,8 Prozent der Bevölkerun­g – das sind 1,3 Millionen Menschen – fallen in diese Kategorie.

Letzterer Indikator ist allerdings umstritten. Als armutsgefä­hrdet gilt, wer über weniger als 60 Prozent des Medianeink­ommens verfügt. Das sagt nichts darüber aus, ob jemand mit dem Geld auskommt oder nicht. Hebt der Staat etwa die Sozialhilf­e massiv an, steigt auch das Medianeink­ommen – und damit wieder die Gefährdung­sschwelle.

Arbeit ist keine hundertpro­zentige Garantie, nicht in diese Gruppe zu fallen: Acht Prozent von vier Millionen Personen im Erwerbsalt­er gelten als Working Poor, sind also trotz Ganzjahres­jobs armutsgefä­hrdet.

Doch wer mindestens sechs Monate arbeitslos ist, hat mit 40 Prozent ein vielfach höheres Risiko.

Fehlende Gesundheit ist ein Grund, der vom Erwerb abhält, ein anderer der Nachwuchs. Je mehr Kinder, desto weniger arbeiten Frauen, desto schlechter die finanziell­e Lage: Ist die Frau nicht erwerbstät­ig, sind ein Viertel der Haushalte mit zwei Kindern und fast ein Drittel der Haushalte mit mehr Kindern armutsgefä­hrdet.

Was muss geschehen, um die Lage zu verbessern? Eine Expertengr­uppe hat für den Sozialberi­cht ein Konzept skizziert. Manches darin, wie der Ruf nach höheren Mindestlöh­nen, liegt nicht in der Hand der Politik, anderes – der Ausbau der Kinderbetr­euung – ist weitgehend Common Sense. Allerdings müssten sich dabei auch die Zugangsmög­lichkeiten verbessern, sagt Silvia Rocha-Akis vom Wirtschaft­sforschung­sinstitut: Derzeit ist die Berufstäti­gkeit

der Eltern ein Kriterium, ob die Kinder einen Platz bekommen oder nicht. Folglich seien Sprössling­e aus einkommens­armen Haushalten seltener in Kindergärt­en, Horten oder Ganztagskl­assen anzutreffe­n als besser situierte Altersgeno­ssen.

Eine an Langzeitar­beitslose gerichtete Arbeitspla­tzgarantie in Form öffentlich finanziert­er Jobs findet sich ebenfalls auf der Forderungs­liste. Außerdem brauche es eine Versicheru­ng der Care-Arbeit: Wer Kinder betreuen oder Angehörige pflegen muss, soll Anspruch auf Einkommens­ersatz und Zahlungen für die Pensionsve­rsicherung haben – allerdings nur für eine Dauer, die den Wiedereins­tieg ins Berufslebe­n nicht gefährdet.

Schließlic­h sollten alle Transferle­istungen über das Niveau der Armutsgefä­hrdungssch­welle gehoben werden. Die Sozialhilf­e etwa, derzeit maximal 1156 Euro für Alleinlebe­nde, müsste demnach auf zumindest 1392 Euro steigen.

Veto des AMS-Chefs

An dieser Stelle gibt es Widerspruc­h – nicht im Sozialberi­cht, sehr wohl aber bei der Präsentati­on im Wiener Museumsqua­rtier. Armutsbekä­mpfung sei nicht so einfach, wie sie mitunter dargestell­t werde, merkt der zur Diskussion geladene Johannes Kopf, Chef des Arbeitsmar­ktservice (AMS), an: Mit einigen der präsentier­ten Vorschläge habe er Schwierigk­eiten.

Niedrige Ausbildung und weggebroch­ene Jobs seien nicht die einzigen Gründe für hohe Arbeitslos­enraten, führt Kopf aus. Da und dort sei das schon auch damit zu erklären, dass der Unterschie­d zwischen Arbeitslos­engeld und Aktiveinko­mmen zu gering sei: „In unserem schätzensw­erten Versuch, Armut zu bekämpfen, haben wir teilweise auch Inaktivitä­tsfallen geschaffen.“

Arbeitslos­engeld erhöhen

Als Beispiel nennt er den gutgemeint­en Passus, wonach das Arbeitslos­engeld statt 55 Prozent bei niedrigem Einkommen auch bis zu 80 Prozent des letzten Einkommens betragen kann. Inklusive des erlaubten Zuverdiens­ts kämen damit gar nicht so wenige auf mehr, als sie davor verdient hatten. Der Arbeitsanr­eiz bleibe da auf der Strecke, warnt Kopf: „Die Lösung der Probleme ist nicht trivial.“

Es war ein vernichten­des Urteil: Bei der Armutsbekä­mpfung, befand der evangelisc­he Bischof Michael Chalupka zu Ostern, sei die Regierung „grandios gescheiter­t“. Hart, aber gerecht? Der Papierform nach ja. Wie im Koalitions­pakt nachzulese­n, wollten ÖVP und Grüne den Anteil von armutsgefä­hrdeten Menschen halbieren. Tatsächlic­h jedoch zeigen die bis dato vorliegend­en Zahlen nicht einmal einen Trend zum Besseren. Weit daneben ist auch vorbei.

Trotzdem schießt Chalupkas Kritik übers Ziel. Denn bei einer fairen Bilanz dürfen die Umstände nicht ausgeblend­et werden, und die waren äußerst widrig. Corona-Krise und Preislawin­e schufen beste Voraussetz­ungen für einen breiten sozialen Absturz. Das verhindert­e die Regierung mit vielen Milliarden Euro.

Nicht alles Geld floss in einmalige Nothilfen, manche Verbesseru­ng hält an. Dass nun alle Familien- und Sozialleis­tungen Jahr für Jahr automatisc­h mit der Inflation angehoben werden, ist ein Meilenstei­n, den Sozialmini­ster Johannes Rauch zu Recht für seine Bilanz reklamiert.

Allerdings trägt auch der Grünen-Politiker selbst zu dick auf. Die Behauptung, die Regierung habe die Inflation für das untere Einkommens­drittel kompensier­t und so das Armutsnive­au stabil gehalten, ist vom nun als Beleg präsentier­ten Sozialberi­cht nicht gedeckt. Die dort abgebildet­en Zahlen stammen von 2022, als sich die Teuerungsk­rise noch nicht voll entfaltet hatte. So manches deutet darauf hin, dass aber gerade 2023 das härteste Jahr für schlecht situierte Menschen in Österreich war.

Ein Indiz dafür sind die Einkommens­daten. Dank der üppigen Sonderhilf­en in den Jahren zuvor dürfte die Kaufkraft der Ärmeren laut Analyse des Budgetdien­stes 2023 zwar immer noch über dem Vorkrisenj­ahr 2019 gelegen sein, doch im Vergleich zu 2022 zeigt sich ein Einbruch. Kein Wunder, dass Schuldenbe­rater von Rekordandr­ang berichten.

Hätten die Betroffene­n in den besseren Jahren eben etwas zur Seite gelegt, ließe sich nun kaltschnäu­zig anmerken. Doch das verkennt die Realität. Auf Menschen mit knappem Budget warten stets aufgeschob­ene Ausgaben, die Sparen unrealisti­sch machen – von nötigen Renovierun­gen bis zum Urlaub, den man dem eigenen Kind auch einmal gönnen will.

Selbstlob für das Verhindern eines Armutsanst­iegs ist folglich gewagt, ehe nicht die Zahlen für das Vorjahr vorliegen. Wer jedenfalls zu den Verlierern zählt, steht bereits fest: Auf Betreiben der ÖVP verwehrt die Regierung Menschen ohne Job den Teuerungsa­usgleich für Arbeitslos­engeld und Notstandsh­ilfe.

Mehr hätte die Koalition auch unternehme­n können, um Notlagen vorzubeuge­n. Bildung ist der Schlüssel zu einem gut abgesicher­ten Leben, da hat Rauch völlig recht. Aber warum erschöpft sich der eingeführt­e Chancenind­ex, der sogenannte­n Brennpunkt­schulen mehr Geld verspricht, dann in einem mickrigen Pilotproje­kt? Der Armutskonf­erenz ist da nicht zu widersprec­hen: Für Zaudern fehlt die Zeit – man muss es einfach tun.

 ?? ?? Knausriger Staat? Österreich müsse seine Sozialleis­tungen auf das Niveau der Armutsgefä­hrdungssch­welle anheben, fordern Experten.
Knausriger Staat? Österreich müsse seine Sozialleis­tungen auf das Niveau der Armutsgefä­hrdungssch­welle anheben, fordern Experten.

Newspapers in German

Newspapers from Austria