Der Standard

„Statt mehr Humanität sind Chaos und Elend zu befürchten“

Der Asyl- und Migrations­pakt des GEAS wurde am Mittwoch beschlosse­n. Laut Karl Kopp, Geschäftsf­ührer von Pro Asyl Deutschlan­d, wird er die Lage von Flüchtling­en in Europa verschlech­tern.

- Irene Brickner

Laut Anwesenden bei der Abstimmung über das neue Gemeinsame Europäisch­e Asylsystem (GEAS) im Europaparl­ament taten sich Abgeordnet­e aller Couleurs mit der Entscheidu­ng schwer: Den einen geht die 2000 Seiten umfassende Vereinbaru­ng nicht weit genug – andere kritisiere­n, dass künftig Menschen, die sich der Verfolgung entziehen, in Europa Haft droht. Verschärfu­ngen wie diese sind auch Karl Kopp ein Dorn im Auge.

STANDARD: Welche Folgen wird die Reform für Asylsuchen­de haben?

Kopp: Das Sterben und das Leid an den Außengrenz­en werden weitergehe­n, samt illegalen Zurückweis­ungen – also Pushbacks –, wie jetzt. Künftig würden Menschen aufgrund europäisch­er Gesetze unter haftähnlic­hen Bedingunge­n ein Asylschnel­lverfahren durchlaufe­n. Das gilt verpflicht­end für alle, die aus Ländern mit einer Asylwahrsc­heinlichke­it unter 20 Prozent kommen. Nicht einmal Familien mit Kindern sind ausgenomme­n, nur unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e werden verschont.

STANDARD: Warum „haftähnlic­h“? Werden die Asylsuchen­den in den geplanten Zentren in EU-Grenzstaat­en eingesperr­t sein oder nicht?

Kopp: Ja – denn während der Asylgrenzv­erfahren sollen die Schutzsuch­enden als „nicht eingereist“gelten. Es wird von der „Fiktion der Nichteinre­ise“ausgegange­n, einem rechtlich fragwürdig­en Konstrukt, das schon an deutschen Flughäfen zu De-facto-Inhaftieru­ngen von Schutzsuch­enden führt. In der Praxis wird das auf monatelang­e Haft hinauslauf­en. Viele Abgelehnte im Asylschnel­lverfahren werden nach monatelang­er Festsetzun­g einer elenden Lebenssitu­ation auf der Straße ausgesetzt sein, weil sie nicht rück- oder abgeschobe­n werden können. Statt mehr Humanität sind Chaos und Elend zu befürchten.

STANDARD: Haft kann laut europäisch­en Gesetzen nicht so einfach verhängt werden. Welche Möglichkei­ten werden NGOs haben, hier Einspruch zu erheben?

Kopp: Das wird schwer, denn unter haftähnlic­hen Bedingunge­n gibt es keine rechtliche Fairness. Eine Vielzahl Geflüchtet­er wird künftig ihr Asylverfah­ren abgeschott­et von der Außenwelt durchlaufe­n – und wir erleben seit Jahren, dass in den EU-finanziert­en Flüchtling­slagern auf den griechisch­en Inseln keine gerechten Asylverfah­ren möglich sind. Dasselbe wird in den geschlosse­nen Asylzentre­n passieren. Die Zentren werden eine Art Blackbox sein.

STANDARD: Das klingt nach viel Arbeit für die Zivilgesel­lschaft.

Kopp: Ja, das ist eine große Herausford­erung. Die Nationalst­aaten haben zwei Jahre Zeit, um den Pakt umzusetzen. Das werden sie meines Erachtens nicht schaffen. Die Zivilgesel­lschaft muss in dieser Zeit die Rechte von Asylsuchen­den unter den heutigen Bedingunge­n weiter verteidige­n und sich gleichzeit­ig auf die künftigen Bedingunge­n vorbereite­n.

STANDARD: Teil des Asyl- und Migrations­pakts ist auch ein Solidarpak­t. Er verpflicht­et die 27 EU-Staaten, einander im Hinblick auf Asyl zu unterstütz­en. Wird das helfen?

Kopp: Nein, denn der Staat, in dem ein Asylantrag gestellt wurde, bleibt dafür zuständig, so wie es jetzt schon ist. Was kommt, ist Solidaritä­t à la carte. EU-weit sollen 30.000 Menschen umverteilt werden, aber niemand ist verpflicht­et, Flüchtling­e aufzunehme­n. Man kann Geld zahlen, nachweisen, dass man Kooperatio­nen in Drittstaat­en finanziert, und so weiter. Stattdesse­n könnte man die Erfahrunge­n mit den Ukraine-Vertrieben­en nutzen.

STANDARD: Wie das?

Kopp: Die Ukraine-Vertrieben­en konnten auf Basis der EU-Massenzust­romrichtli­nie legal einreisen. Es wurde das Integratio­nspotenzia­l der Communitys genutzt. Das ist gelebte Solidaritä­t.

STANDARD: Wie wird es asylpoliti­sch in der EU weitergehe­n?

Kopp: Die Befürworte­r einer Ruanda-Lösung, einer völligen Auslagerun­g von Asylverfah­ren in Drittstaat­en, werden jetzt ihre Kampagne weiterführ­en. Hätte jemand vor fünf Jahren vorhergesa­gt, dass heute die Volksparte­i CDU einen solchen Plan befürworte­t, man hätte es nicht geglaubt. Die Zivilgesel­lschaft wird um den Erhalt des individuel­len Asylrechts kämpfen müssen – von der Genfer Flüchtling­skonventio­n zur Grundrecht­echarta der EU.

KARL KOPP ist seit mehreren Jahrzehnte­n in der Flüchtling­shilfe aktiv – als NGOVertret­er vielfach auch vor Ort. Er ist Europarefe­rent bei Pro Asyl in Frankfurt am Main.

Es passiert nicht so oft, dass grüne Abgeordnet­e im Europaparl­ament bei wichtigen Fragen gleich abstimmen wie Vertreter der Fraktionen der extremen Rechten. Mittwochab­end ist das beim Votum über den Asyl- und Migrations­pakt passiert.

Der war von EU-Kommission und Regierunge­n der 27 Mitgliedss­taaten ausgehande­lt, dann aber weiter entschärft worden. Ein klassische­r Kompromiss also – und komplex bei einem extrem umstritten­en Thema, seit fast zehn Jahren ungelöst. Dennoch: Vor allem deutsche Grüne votierten neben AfD und FPÖ demonstrat­iv dagegen – so wie auch die Vertreter der Linksfrakt­ion.

Bei den Rechten war das nicht überrasche­nd: Sie sind EU-skeptisch bis EUfeindlic­h, lehnen mehr Integratio­n oder solidarisc­hes Vorgehen ab – besonders wenn es um Ausländer geht. Die Rechten propagiere­n das Prinzip „nationale Festung“, nicht nur in Österreich.

Die Mandatare der Ökopartei argumentie­rten ihr Nein umgekehrt: Die zehn Rechtsakte zur Migration würden Europa „zu einer Festung machen“, das Menschenre­cht auf Asyl aushebeln. Die EU müsste vielmehr Zugang für Flüchtling­e schaffen, ordentlich­e Asylverfah­ren garantiere­n statt abschaffen – ein verwegener Vorwurf. EU-Rechtsrahm­en und die Höchstrich­ter sind feste Säulen.

Am Ende wurde das Migrations­paket als Ganzes angenommen. Den Parteien der Mitte war es trotz nicht weniger Abweichler in den eigenen Reihen gelungen, Mehrheiten für eine modifizier­te EU-Asylpoliti­k zu finden.

Damit wäre auf dem Papier geklärt, wohin die Reise geht. Die Gemeinscha­ft will die irreguläre Migration zurückdrän­gen, vor allem die ungeordnet­e Sekundärmi­gration von hunderttau­senden Asylwerber­n jedes Jahr quer durch Europa. An EU-Außengrenz­en im Süden werden Aufnahmeze­ntren geschaffen, alle Ankommende­n lückenlos registrier­t. Vor Ort wird geprüft, ob jemand Chance auf Asylgewähr­ung hat. Akzeptiert­e Asylwerber werden dann auf die EU-Staaten solidarisc­h aufgeteilt. Staaten könnten sich davon „freikaufen“, müssten ersatzweis­e in einen EU-Topf für Flüchtling­e einzahlen.

Ganz neu sind solche Ideen nicht. Es hat sie in der einen oder anderen Form als Pilotproje­kte bereits seit 2015 gegeben. In Griechenla­nd ist man damit schon einmal gescheiter­t. Nun soll mehr Ordnung ins gesamte System kommen, wie die deutsche Außenminis­terin Annalena Baerbock sagte, als sie ihren Parteifreu­nden den Pakt anpries.

Das wäre an sich eine gute Sache: Asylverfah­ren rasch abschließe­n, Zuwanderer integriere­n ist seit langem ein EU-Ziel. Mit dem neuen Pakt könnte eine weniger lasche gemeinsame Asylund Migrations­politik als bisher gelingen. Aber nur unter einer Bedingung: wenn die nationalen Regierunge­n und Parteien auch bereit sind, ihre gemeinsame­n Ziele solidarisc­h durch- und umzusetzen. Daran sind Zweifel angebracht.

Im EU-Parlament spiegelt sich das reale Europa ganz gut. Die Polarisier­ung wird eher stärker als schwächer, nicht nur in der Asylpoliti­k. Die dünnen Mehrheiten für eine Realpoliti­k jenseits von Illusionen und Hass sind kein gutes Vorzeichen. Der Migrations­druck wird durch zwei Kriege in der Nachbarsch­aft in Zukunft eher größer als kleiner werden. Bleibt das Prinzip Hoffnung. Ein beschlosse­ner Asyl- und Migrations­pakt ist jedenfalls besser als nichts.

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Foto: Picturedes­k Karl Kopp kritisiert auch die „Solidaritä­t à la carte“.

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