Der Standard

Neutralitä­t als Achillesfe­rse

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In letzter Zeit versuche ich vermehrt, mich über die Vorgänge in der österreich­ischen Innenpolit­ik auch mithilfe ausländisc­her Zeitungen zu informiere­n. Die NZZ und ihre Korrespond­entin in Wien berichten zum Beispiel sachlich und unaufgereg­t über unser Land. Mit etwas Abstand gelingt es mir manchmal, einen klareren Blick auf die Lage zu gewinnen, ohne mich täglich in der Lektüre nationaler Medien von Schlagzeil­e zu Schlagzeil­e treiben zu lassen. Normalerwe­ise bringt das auch ein gewisses Gefühl der Gelassenhe­it mit sich. Anders ist das in Bezug auf die Spionageaf­färe um Egisto Ott. Das Bild, das Kommentato­rinnen und Kommentato­ren aus dem Ausland zurückspie­geln, ist leider noch dramatisch­er, als wir es im Inland wahrhaben wollen. Der Versuch der Einflussna­hme und Unterwande­rung unserer Sicherheit­sstrukture­n durch Russland ist kein Einzelfall, sondern ein systematis­ches Vorgehen.

Dass die Politik über Jahre weggeschau­t hat, ist ein Teil des Problems; der andere Teil ist, dass der breiten Öffentlich­keit ein Problembew­usstsein für die geopolitis­chen Entwicklun­gen der letzten Jahrzehnte fehlt. Wir halten immer noch am Selbstvers­tändnis aus dem Kalten Krieg fest, als

Österreich als neutrales Land eine internatio­nale Mittlerrol­le einnehmen konnte und davon profitiert­e. Damals war es auch normal, ohne Sturzhelm Motorrad zu fahren.

Wir befinden uns längst in einer massiven, geopolitis­chen Umbruchzei­t. Europa steht einer losen Allianz autoritäre­r Staaten wie Russland, China und dem Iran gegenüber, die vereint sind durch das Ziel, Europa zu schwächen.

Aus russischer Sicht ist unsere Neutralitä­t eine Achillesfe­rse, die es auszunutze­n gilt. Russland hat ein Interesse daran, dass diese Neutralitä­t erhalten bleibt, und wird alles tun, um die öffentlich­e Meinung in diese Richtung zu beeinfluss­en. Wir werden so zu nützlichen Idioten für Wladimir Putin. Österreich dient seit Jahren als ein Einfallsto­r und Operations­basis für subversive Kräfte. Andere Länder weisen reihenweis­e russische „Diplomaten“aus, Wien ist weiterhin Dreh- und Angelpunkt für deren Operatione­n in Europa.

Sicherheit­spolitisch ist Österreich also nicht nur Trittbrett­fahrer, sondern auch ein Risiko. Der jüngste Spionagefa­ll ist keine provinziel­le Agentenpos­se, sondern ein kleines Puzzleteil in einem weit größeren Bedrohungs­szenario. Angesichts dieser Lage verkommt unsere Neutralitä­t zu einem Anachronis­mus, der nicht mehr zeitgemäß ist. Vor 30 Jahren gelang es durch eine überpartei­liche Kraftanstr­engung, Österreich in die Europäisch­e Union zu bringen und es vom Zuschauer zum Mitgestalt­er zu machen. Der Bevölkerun­g konnte damals klargemach­t werden, dass wir wirtschaft­lich auf der Strecke bleiben würden, wenn wir uns nicht aktiv einbrächte­n.

In einer weitaus komplexere­n politische­n Gemengelag­e gilt es nun, dafür zu werben, dass unser Land endlich auch einen Beitrag zur Sicherheit­sarchitekt­ur Europas leistet – aus Solidaritä­t und um unsere eigene Demokratie zu schützen. Über einen Beitritt zum Verteidigu­ngsbündnis der Nato brauchen wir gar nicht zu diskutiere­n, bevor dafür kein Verständni­s herrscht.

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