Die Zikaden sind los
In den USA krabbelt derzeit eine riesige Zikadenbrut aus den Böden. Zuletzt trat dieses Ereignis vor 221 Jahren auf. In Österreich ist eine solche Invasion unwahrscheinlich.
Das Zikadengeddon hat begonnen. So nennt John Cooley von der Universität Connecticut das seltene Naturspektakel, das dieser Tage in den USA zu bestaunen ist. Dort leben sogenannte periodische Zikaden, die 13 oder 17 Jahre lang im Erdboden Baumsaft saugen, bevor sie ihren großen Auftritt haben. Eine Population wird als „Brut“bezeichnet, und in diesem Jahr kommen gleich zwei davon quasi gleichzeitig ans Tageslicht. Die Zahl der Insekten könnte Fachleuten zufolge eine Billiarde betragen. Das heißt: Eine Million Milliarden an rotäugigen Zikaden kommen aus dem Boden.
Der Höhepunkt dürfte Mitte Mai erreicht werden. Das letzte Mal, dass diese beiden Bruten gemeinsam aus der Erde kamen, fiel in das Jahr 1803. Dass ihr Rhythmus auf 13 oder 17 Jahre angepasst ist, dürfte dem Zufall und der Genetik geschuldet sein – sowie der Tatsache, dass ihre Fressfeinde nicht so lange leben oder die eigenartigen Zyklen nicht vorhersehen.
Noch ist unklar, wie es eine der insgesamt 15 Bruten schafft, sich zu koordinieren. Nötig ist eine Temperatur von mindestens 17,8 Grad Celsius. Aber manche Jungtiere stecken tiefer im Erdreich als andere, sie sind unterschiedlichen Temperaturen ausgesetzt.
Laute, aber harmlose Invasion
Forschende der Universität Cambridge in Großbritannien entwickelten ein mathematisches Modell, um dieses Rätsel zu lösen. Demnach kommt ein halbwegs synchrones Hervortreten der Zikaden nur dann zustande, wenn sie im Erdreich aufeinander reagieren. Fangen manche an, aktiv zu werden, treibt das andere an – so die Hypothese, die aber noch nicht biologisch getestet wurde.
Mancherorts wird man in den USA bald Unmengen an toten Tieren und zurückgelassenen Hüllen von der Einfahrt kehren, der Balzgesang der Insekten kann zur akustischen Belastung werden. Ihr Zirpen wird gemeinsam mitunter so laut wie ein Flugzeug – mehr als 100 Dezibel. Abgesehen davon sind Zikaden harmlos: Sie sind im Normalfall weder giftig, noch beißen oder stechen sie. Außer man ist eine Pflanze, dann kann man Zikaden durchaus als Vampire betrachten. Die landwirtschaftlichen Schäden dürften sich Fachleuten zufolge aber sehr in Grenzen halten.
Paarungszeit und Sommerloch
Könnte eine solche Zikadenwucht wie in den USA auch hierzulande auftreten? Nein, sagt Experte Gernot Kunz. Die 13- und 17-jährigen Arten kommen hierzulande nicht vor. Der Biologe forscht an der Universität Graz und dem Universalmuseum Joanneum. Ihn faszinieren diese Insekten, weil sie praktisch überall vorkommen: „Ich kann jetzt hinausgehen und fünf bis zehn Zikadenarten auf der nächsten Wiese fangen – aber trotzdem kennt kaum jemand diese Gruppe.“Ausnahme: die lautstarken Singzikaden. Zu dieser Familie gehören nicht nur jene Arten, die nun in den USA für Furore sorgen, sondern auch die Musikanten, die für den Soundtrack des Mittelmeerurlaubs sorgen.
In Österreich gibt es etwa 670 Zikadenarten. Die meisten leben maximal ein, zwei Jahre lang. In der Regel überwintern sie als Ei, manche auch als Larven oder erwachsene Tiere. „Jetzt ist die Zeit, in der einige Zikaden adult werden und auf Partnersuche gehen“, sagt Kunz. Bei den meisten Arten fällt dies in den Mai und Juni. Jene, die eine zweite Generation pro Jahr haben, können im Herbst wieder beobachtet werden. Dazwischen gibt es ein „Sommerloch“.
Die heimischen Arten werden wenige Millimeter bis sechs Zentimeter lang, wobei die große und mediterran verbreitete Gemeine Singzikade in Österreich seit mehr als 100 Jahren nicht mehr nachgewiesen wurde. Die Männchen der Singzikaden sind die einzigen, die für Menschen hörbar sind: Sie bemerkt man an warmen, sonnigen Tagen teils aus 100 Meter Entfernung. Es gehört aber eine gewisse Übung dazu, um ihre Klänge von Heuschrecken wie dem Grünen Heupferd zu unterscheiden.
Wer nur die gigantischen Schwärme rotäugiger Singzikaden kennt, mag überrascht sein, wie attraktiv viele Spezies aussehen. In ihren bunten Farben erinnern sie Kunz an Korallenfische. Manche sind so angetan, dass sie den Arten Namen geben wie Binsenschmuckzikade oder Schöne Elfenzikade, beide sind in Österreich heimisch.
Viele Zikaden sind wählerisch: Von 671 nachgewiesenen Zikadenarten in Österreich ist mehr als die Hälfte auf nur eine Pflanzenart oder -gattung spezialisiert. Daher können sie sich nicht so gut an sich verändernde Bedingungen anpassen, falls ihre Stammpflanze etwa klimakrisenbedingt wegfällt. Außerdem sorgen die starke Verbauung und die intensive Land- und Forstwirtschaft dafür, dass ihr Lebensraum zerstört wird.
Zwar gab es schon immer Hitze, Nässe, Hagel und andere Extremereignisse, erklärt Kunz. Doch diese werden nicht nur häufiger und stärker, sie werden für isolierte Populationen zur tödlichen Gefahr. Waren die Tiere einst so verbreitet, dass einzelne Rückschläge kaum das Überleben bedrohten, so gibt es heute immer weniger Ausweichmöglichkeiten. „Deswegen werden wir auch in strengen Schutzgebieten Arten verlieren“, sagt der Biologe. Mehr als die Hälfte der Zikadenarten ist nah an der Gefährdungsgrenze oder vom Aussterben bedroht.
Während seltene Spezies aussterben, siedelten sich laut Kunz 20 gebietsfremde Arten an – weitere 30 sind in den kommenden Jahren zu erwarten. Durch den Klimawandel ziehen neue Arten aus wärmeren Gebieten nach Österreich. Hinzu kommen eingeschleppte Arten. Das passiert vor allem über den Pflanzenhandel: Zikadeneier befinden sich in Erde und Stängeln importierter Pflanzen.
Polizeiruf wegen Lärmbelästigung
Landwirtschaftliche Schäden durch Zikaden seien hingegen auch hier ein eher kleines Problem. Die Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit Ages nennt die Bläulingszikade und die Amerikanische Rebzikade als Schaderreger. Erstere breitet sich stark aus und kann bei massenhaftem Auftreten für Flecken auf Obst und Pflanzen sorgen. Die Rebzikade überträgt mitunter Viren, Bakterien und Parasiten auf Weinreben.
In den USA sorgen die allmählich in Massen auftretenden Zikaden im US-Bundesstaat North Carolina für verwirrte Anrufe bei der Polizei. Woher kommt der Lärm, der manche an Rasenmäher, Sirenen oder sogar weinende Kinder erinnert? Das Büro des Sheriffs in Newberry, das bei dieser Lärmbelästigung nicht weiterhelfen kann, reagiert trocken: „Leider sind das die Klänge der Natur.“Entomologen sprechen naturgemäß positiver darüber und nennen das Spektakel eine „Symphonie der Zikaden“.