Waches Auge auf Gefahren
Rund 50 Mobility-Observation-Boxen made in Austria sind europaweit im Einsatz. Sie analysieren automatisiert brenzlige Situationen im Straßenverkehr. Aus den Daten lassen sich Maßnahmen für mehr Sicherheit auf der Straße ableiten.
Einen Designpreis wird die Mobility-Observation-Box (MOB) wohl eher nicht gewinnen. Das etwa schuhschachtelgroße schmucklose Gehäuse ist völlig unauffällig, lässt keinerlei ästhetische Ambition erkennen. Doch das ist auch gar nicht beabsichtigt. Denn die MOB ist ein Gerät, das Videoaufnahmen im Straßenverkehr macht. Montiert wird sie idealerweise in etwa sechs bis acht Meter Höhe.
Ein optischer Hingucker könnte dabei kontraproduktiv sein, erklärt Peter Saleh, Senior Research am Austrian Institute of Technology (AIT), das die MOB entwickelt hat. „Durch die Bauart gelingt es uns, natürliches Verkehrsverhalten zu erfassen. Ein großes, auffälliges Gerät könnte die Fahrweisen der Verkehrsteilnehmer unbewusst beeinflussen“, sagt Saleh.
Aus heiklen Situationen lernen
Aufgabe der MOB ist es, mittels einer Videokamera den Verkehr an bestimmten Punkten aufzunehmen. Später können in den Videodaten automatisiert potenzielle Gefahrensituationen identifiziert werden. Der integrierte Akku reicht für eine Woche kontinuierliche Aufnahme. Danach wird die Box abgenommen und am AIT ausgewertet.
Dazu werden von der Software zuerst alle Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer erfasst und in eine von verschiedenen Gruppen eingeteilt – Fußgängerinnen, Autofahrer, Radfahrerinnen und so weiter. Die Bewegung jedes individuellen Verkehrsteilnehmers wird mittels einer Bewegungslinie getrackt. Aus diesen Daten können dann Risiken errechnet werden.
Kommen sich etwa die Linien einer Fußgängerin und eines Radfahrers sehr nahe, könnte das bereits ein Hinweis auf eine Gefahrensituation sein. „Wir werten auch Beinahe-Unfälle
aus, weil diese wesentlich häufiger auftreten als tatsächliche Unfälle“, sagt Saleh. Ein dafür oft genutzter Kennwert ist die „Time to Collision“. Sie gibt für einen bestimmten Zeitpunkt an, wie lange es dauern würde, bis es zwischen zwei oder mehreren Verkehrsteilnehmenden zum Unfall käme, würden sie ihr momentanes Verhalten – Geschwindigkeit und Fahrtrichtung – unverändert lassen.
Automatische Risikobewertung
Die „Post Encroachment Time“wiederum gibt an, wie viel Zeit vergeht, bevor ein Verkehrsteilnehmer die Bewegungslinie eines anderen berührt, nachdem dieser diese Linie bereits verlassen hat. Zusätzlich kann die Software Unfälle beziehungsweise BeinaheUnfälle zählen oder das individuelle Bremsund Beschleunigungsverhalten auswerten.
Es lassen sich auch einzelne Gruppen von Verkehrsteilnehmern und Verkehrsteilnehmerinnen und speziell deren Verhalten untersuchen. So kann man zum Beispiel erheben, ob E-Scooter an einem bestimmten Straßenabschnitt häufiger in Konfliktsituationen geraten als Radfahrer. Nach Abschluss der Analysen gibt das System automatisiert eine Risikobewertung aus. Auf Wunsch bieten die Forschenden
des AIT als Forschungsdienstleistung aber auch eine persönliche Beratung an. Zum Einsatz kommt die Box typischerweise an neuralgischen Verkehrspunkten, an denen es an Erfahrungswissen über die komplexe Dynamik des lokalen Verkehrs mangelt. Oder an denen solches Wissen mittels standardisierter Messungen auf ein solides theoretisches Fundament gestellt werden soll.
Ein weiteres Anwendungsszenario stellen bauliche Veränderungen dar: Ein Betreiber von Straßeninfrastruktur kann mithilfe der MOB beispielsweise herausfinden, ob sich die Niveauanhebung eines Schutzwegs, eine neue Lichtanlage, eine Verengung der Fahrbahn oder ein neuer Radweg unter dem Aspekt der Verkehrssicherheit bewährt.
Niederschwellig einsetzbar
Ein Vorteil der MOB ist ihre niederschwellige Einsetzbarkeit. Man muss lediglich die erforderliche Bildschärfe einstellen und die Box dann am gewünschten Einsatzort festschrauben. Ein Anschluss an die Stromversorgung ist wegen der integrierten Batterie nicht nötig. Aufgrund dieser unkomplizierten Einsetzbarkeit eignet sich die MOB auch dafür, Straßenszenarien an verschiedenen Orten zu analysieren und die Ergebnisse später objektiv miteinander zu vergleichen. Aktuell sind rund 50 Exemplare der MOB in Betrieb. Meistens in europäischen Forschungsprojekten zur Verkehrssicherheit, zu einem geringeren Anteil auch bei kommunalen Infrastrukturbetreibern.
Keine Daten bei Diebstahl
Wesentlich für die Nutzung im öffentlichen Raum ist eine behördliche Zulassung gemäß den Vorgaben des Datenschutzes. Die Videodaten werden deshalb sofort nach der Aufnahme noch im Gerät verschlüsselt. Sollte die Box gestohlen werden, könnten kriminelle Charaktere somit keine personenbezogenen Daten herausholen. Sobald die Aufnahmen zur automatisierten Analyse beim AIT eingelangt sind, werden mittels Algorithmen des maschinellen Lernens Autokennzeichen, Modelllogos und Gesichter verpixelt.
Normalerweise bekommt kein Mensch die Videoaufnahmen zu Gesicht, das System arbeitet völlig geschlossen und automatisiert. In Ausnahmefällen kann es jedoch erforderlich sein, einzelne Videoausschnitte manuell zu sichten. „Es gibt die Möglichkeit, Einzelsequenzen der Konflikte anzusehen“, sagt Saleh. „Wir können dann zum Beispiel die zehn schlimmsten Fälle zeigen und mit dem Kunden Maßnahmen besprechen.“
In diesem Fall werden über die sonstige Anonymisierung hinausgehend die Videos außerdem in ein Schwarz-Weiß-Format umgewandelt, damit keinerlei Rückschlüsse auf reale Personen aufgrund von Farbinformationen möglich sind. Einen Preis hat die so unauffällige MOB übrigens doch schon gewonnen: Unlängst wurde sie mit dem renommierten „Excellence in Road Safety Award“des European Road Safety Charter (ERSC) der Europäischen Kommission in der Kategorie „Daten“ausgezeichnet.
„Wir werten auch Beinahe-Unfälle aus, weil diese wesentlich häufiger auftreten als tatsächliche Unfälle.“
Peter Saleh, Senior Researcher am Austrian Institute of Technology