„Blutbuch“ist mehr als bloß viel anonymer Sex
Wiener Theater am Werk zeigt den mit dem Buchpreis prämierten Roman von Kim de l’Horizon – ehe die Festwochen nachziehen
Echt ärgerlich?! Mit Zweidreiviertelstunden ist Blutbuch eine für Theater-am-WerkBühnenverhältnisse XL-Produktion. Den 2022 mit dem deutschen Buchpreis prämierten autobiografischen Bestseller von Kim de l’Horizon zum Thema Queerness bringt man aber auch nicht alle Tage auf die Bühne und noch dazu als österreichische Erstaufführung. Ein kleiner Coup! Aber dann heben die Festwochen dasselbe Stück einen Monat später auch auf ihren Spielplan – und mit der nichtbinären Autorperson selbst on stage! Gibt es in Wien genug Interessierte für beide Produktionen?
Die gute Nachricht: Man muss nicht auf das aus Zürich zu den Festwochen kommende Blutstück (Obacht auf den Titel!) warten. Es spricht vieles für den hiesigen Abend. Die mit viel Tüll und Netz an Kims Buchpreis-Outfit inspirierten Kostüme (Lan Pham) zwar weniger. Aber – natürlich ließe sich auch manches kürzen – in der Fassung von Jchj V. Dussel und Paul Splitter (Ersterer spielt auch, Letzterer führt Regie) findet quasi alles von den 336 Seiten auf die Bühne.
Rückeroberung des Körpers
Auf der liegt am Anfang wie eine Schweizer Berglandschaft ein Haufen aus Decken. Bricht hier bildmetaphorisch etwas auf? Gleich beginnt er sich zu regen, und heraus schlüpfen die fünf Darstellenden. Sie alle sind Versionen von Kim. Dussel (eine laszive Variante) berichtet mit signalroten Fußsohlen vom Hallux der Grossmeer (Großmutter) und wie von diesen Füßen zu lernen war, dass sogar der eigene Körper gegen einen arbeiten kann. Ein kleines, aber gewitztes Motiv! Harwin Kravitz (eher brav und unschuldig) stolpert infolge der durch gesellschaftliche Normen hervorgerufenen Zweifel am eigenen In-derWelt-Sein gegen die Kulissen.
Alle Widersprüche
Viel anonymer schwuler Sex (nicht darum, die fremden Penisse in sich zu spüren, geht es Kim, sondern darum, sich um sie herum zu spüren) wird zum schmerzvollen Versuch der Körperrückeroberung. Manchem mag bei den Schilderungen der Mund offen stehen bleiben. Mit großem Furor klopft Blutbuch Identitätskonzepte (Moritz Sauer) und Weiblichsein als eine Tradition von Unterdrücktwerden und Entbehrenmüssen (Lara Sienczak) ab.
Vergleichsweise verhalten ist die Inszenierung, die einige wenige zurückgelehnte, assoziative Bilder jeweils lange durchhält. Man würde sich während des Abends hie und da zwar mehr Action wünschen, stellt nachher aber fest: Wie Decken als Verstecke und Röcke um die Körper gewunden werden, Klein Kim unter dem titelgebenden Baum aus rosa Tüll hockt oder Jasmin Avissar mit den Armen einen riesigen Wollteppich strickt und einen matrilinearen Stammbaum aufspannt, bleibt lang im Gedächtnis. Alle Widersprüche so sensibel aufzunehmen, das muss man erst einmal schaffen.