Der Standard

„Blutbuch“ist mehr als bloß viel anonymer Sex

Wiener Theater am Werk zeigt den mit dem Buchpreis prämierten Roman von Kim de l’Horizon – ehe die Festwochen nachziehen

- Michael Wurmitzer

Echt ärgerlich?! Mit Zweidreivi­ertelstund­en ist Blutbuch eine für Theater-am-WerkBühnen­verhältnis­se XL-Produktion. Den 2022 mit dem deutschen Buchpreis prämierten autobiogra­fischen Bestseller von Kim de l’Horizon zum Thema Queerness bringt man aber auch nicht alle Tage auf die Bühne und noch dazu als österreich­ische Erstauffüh­rung. Ein kleiner Coup! Aber dann heben die Festwochen dasselbe Stück einen Monat später auch auf ihren Spielplan – und mit der nichtbinär­en Autorperso­n selbst on stage! Gibt es in Wien genug Interessie­rte für beide Produktion­en?

Die gute Nachricht: Man muss nicht auf das aus Zürich zu den Festwochen kommende Blutstück (Obacht auf den Titel!) warten. Es spricht vieles für den hiesigen Abend. Die mit viel Tüll und Netz an Kims Buchpreis-Outfit inspiriert­en Kostüme (Lan Pham) zwar weniger. Aber – natürlich ließe sich auch manches kürzen – in der Fassung von Jchj V. Dussel und Paul Splitter (Ersterer spielt auch, Letzterer führt Regie) findet quasi alles von den 336 Seiten auf die Bühne.

Rückerober­ung des Körpers

Auf der liegt am Anfang wie eine Schweizer Berglandsc­haft ein Haufen aus Decken. Bricht hier bildmetaph­orisch etwas auf? Gleich beginnt er sich zu regen, und heraus schlüpfen die fünf Darstellen­den. Sie alle sind Versionen von Kim. Dussel (eine laszive Variante) berichtet mit signalrote­n Fußsohlen vom Hallux der Grossmeer (Großmutter) und wie von diesen Füßen zu lernen war, dass sogar der eigene Körper gegen einen arbeiten kann. Ein kleines, aber gewitztes Motiv! Harwin Kravitz (eher brav und unschuldig) stolpert infolge der durch gesellscha­ftliche Normen hervorgeru­fenen Zweifel am eigenen In-derWelt-Sein gegen die Kulissen.

Alle Widersprüc­he

Viel anonymer schwuler Sex (nicht darum, die fremden Penisse in sich zu spüren, geht es Kim, sondern darum, sich um sie herum zu spüren) wird zum schmerzvol­len Versuch der Körperrück­eroberung. Manchem mag bei den Schilderun­gen der Mund offen stehen bleiben. Mit großem Furor klopft Blutbuch Identitäts­konzepte (Moritz Sauer) und Weiblichse­in als eine Tradition von Unterdrück­twerden und Entbehrenm­üssen (Lara Sienczak) ab.

Vergleichs­weise verhalten ist die Inszenieru­ng, die einige wenige zurückgele­hnte, assoziativ­e Bilder jeweils lange durchhält. Man würde sich während des Abends hie und da zwar mehr Action wünschen, stellt nachher aber fest: Wie Decken als Verstecke und Röcke um die Körper gewunden werden, Klein Kim unter dem titelgeben­den Baum aus rosa Tüll hockt oder Jasmin Avissar mit den Armen einen riesigen Wollteppic­h strickt und einen matrilinea­ren Stammbaum aufspannt, bleibt lang im Gedächtnis. Alle Widersprüc­he so sensibel aufzunehme­n, das muss man erst einmal schaffen.

 ?? ?? „Blutbuch“: Widersprüc­he, sensibel aufgenomme­n.
„Blutbuch“: Widersprüc­he, sensibel aufgenomme­n.

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